Köln

Berlin: 137 Punkte

Gegen zwei Uhr am Sonntagmorgen dürfte dem seit vielen Stunden enthusiastisch geschwenkten Bär auf der Flagge des Ber-
liner Jugendzentrums endgültig schwindelig geworden sein. Die Hauptstadt erringt mit 137 Punkten Gold bei der Jewrovision mit ihrem Motto »I am Jewish«. Silber geht an Dortmund mit 111 Punkten, um einen einzigen Punkt geschlagen werden die Bremer mit 110 Punkten. Köln, der Gewinner vom vergangenen Jahr und damit aktueller Gastgeber, geht leer aus. Mit 38 Punkten landen die Kölner auf dem letzten Platz.

Für die Fans in der Kongresshalle auf dem Messegelände Köln-Deutz, angereist aus mehr als 25 jüdischen Gemeinden, war die Punktevergabe sicherlich spannender als jede Abfahrts- oder Biathlonentscheidung in Vancouver. Zwölf jüdische Jugendzentren aus ganz Deutschland waren angetreten, den bereits zum neunten Mal ausgetragenen Jewrovision Contest zu gewinnen. Dabei handele es sich um das größte jüdische Jugendevent der Nachkriegszeit, ist Beni Vamosi, Leiter des Kölner Jugendzentrums überzeugt.

Passend zum Termin – Karneval ist vorbei und Purim steht vor der Tür – lautete das Motto der Veranstaltung »Mascerade on Air«. Ganz im Stile des großen Eurovision Song Contests stritten fast 500 Kinder und Jugendliche zwischen zehn und 19 Jahren um den besten Tanz- und Musikbeitrag. Und es konnte nur einen Sieger geben.

Entspannt Inmitten des Soundcheck-Trubels um halb acht Uhr abends wirken die 13-jährige Valeria und ihre zwölfjährige Freundin Olga noch richtig relaxed. Die beiden Mädchen vom Kinder- und Jugendzentrum Tikwatejnu in Duisburg sitzen brav in einer der ersten Stuhlreihen des großen Saals und betrachten das hektische Treiben der Musiker, Tontechniker, Sänger und Sängerinnen, Tänzer und Tänzerinnen vor und besonders auf der Bühne. Aber ein bisschen angespannt sind sie doch. Schließ-
lich wollen sie Erste werden.

Um sie herum nervöses Kichern und coole Posen. Einige Mädchen üben im Saal oder auf dem Flur noch ein letztes Mal ihre Tanzschritte, Jungen im T-Shirt ihres Jugendzentrums wippen lässig in den Knien, die Hände in den Hosentaschen vergraben. Ein junger Mann spielt mit geschlossenen Augen E-Gitarre ohne Ton. Noch sind es anderthalb Stunden bis zum Beginn der großen Show und vielleicht noch zwei oder drei Stunden bis zum eigenen großen Auftritt.

Daniela Sobol aus Frankfurt hat es aufgegeben, das ganze Festival filmen zu wollen. Der Trubel ist einfach zu groß. Aber den Auftritt ihres 14-jährigen Sohnes Benjamin – Sänger der Truppe des Frankfurter Jugendzentrums Amichai – will sie auf jeden Fall festhalten. »Er ist zum ersten Mal dabei und er ist natürlich richtig stolz, dass er gleich auf die Bühne darf«, sagt die Frankfurterin mit den blonden Haaren. »Dafür hat er immerhin seit drei Monaten ein- bis zweimal die Woche geübt.« Von der Stimmung ist sie begeistert, von der Lautstärke weniger: »Ich glaube, ich werde alt«, kommentiert sie lachend den Trubel um sich herum. Außerdem hofft sie, dass die Show nicht ganz so lange dauern wird. »Mein großer Sohn hat morgen um zwölf ein wichtiges Basketballspiel.«

OlÉ, OlÉ, OlÉ Die Chancen für Daniela Sobol, einigermaßen zeitig nach Hause zu kommen, sinken schnell. Um 20.30 Uhr sollte es losgehen mit den Darbietungen. Die Stimmung ist prächtig – zu prächtig. »Ruhe bitte. Wir wollen jetzt anfangen«, tönt es durch den Saal. Vergeblich. Die Frankfurter Gruppe brüllt: »Frankfurt, olé, olé, olé«. Die Berliner lassen sich nicht lange bitten und skandieren ihrerseits »Berlin, olé, olé, olé«. Und trotz mehrmaliger Aufforderung werden die Gänge nicht geräumt. Der Vertreter der Feuerwehr schaut bereits recht grimmig auf das muntere Treiben im Saal.

Nach kurzen, einleitenden Worten von Moderator Oliver Polak, dem jüdischen Comedian, wird es dann doch ernst. In einem kurzen Video – zu sehen auf zwei großen Bildschirmen – stellen die Jugendgruppen ihre Stadt und ihr Jugendzentrum vor. Dann geht es auf die Bühne. In farbenfrohen Kostümen, mit Gesichtsmasken und Gymnastikbändern, wird getanzt, gespielt und gesungen. Von Rocknummern wie »Smoke on the water« über eher traurige Melodien bis zu modernem Hip-Hop reicht das musikalische Repertoire.

Eine junge Frau klagt mit ausdrucksstarker Stimme »Keiner weiß, wer ich wirklich bin« und ein junger Mann verpasst dem Welthit von Sting »I’m an Englishman in New York« augenzwinkernd einen neuen Text: »I’m an Alien … I’m a Jewishman in my heart«. Obwohl die Ausrichter ein fröhliches Fest ohne traurige Themen ausgerufen hatten, gibt es dann und wann auch leise, fragende Töne: »Wir brauchen Selbstvertrauen«, mahnt eine junge Sängerin und »Ohne Maske lässt sich viel bewegen«.

Enttäuscht Mittlerweile ist es 23.30 Uhr und die Stimmung bei Valeria und Olga gekippt. Traurig stehen die beiden in der Damentoilette. »Die Schritte haben gar nicht geklappt«, sagt Olga enttäuscht. Ein Mädchen versucht zu trösten: »Du hast doch auch nur zweimal trainieren können.« »Stimmt«, sagt Olga, aber so richtig getröstet fühlt sie sich wohl dennoch nicht. Zum Schluss landen die beiden auf dem vorletzten Platz, aber immerhin sind sie damit noch einen Platz besser als die Truppe des Kölner Jugendzentrums Jachad, die im vergangenen Jahr noch gewonnen hatte.

Benjamin Sobol hat da schon mehr zu lachen. Seine Mannschaft kommt immerhin mit 89 Punkten auf einen guten Platz im Mittelfeld. »Nach seiner Rückkehr war er erst einmal nicht ansprechbar«, erklärt seine Mutter rückblickend. »Kein Wunder: Benjamin hat die Nacht durchgemacht.«

Beni Vamosi zeigt sich begeistert von der Performance der Sieger: »Das war eine besonders beeindruckende, coole Show mit eigener Kulisse, einem coolen Video und einer gelungenen Choreografie.« Das findet auch Daniela Sobol, die dann doch nicht bis zur Wahl, aber immerhin bis zum letzten Beitrag durchgehalten hat. »Den Berliner Auftritt fand ich am gelungensten, toll aber auch die Beiträge aus Bremen und Heidelberg. Da war richtig Pepp drin. Ärgerlich fand ich nur, dass die Mikrofone teilweise aus waren!«

Die Berliner Gruppe kann nach ihrem Sieg mit ihrem Training eigentlich gleich weitermachen. Als Gewinner der nationalen Ausscheidung dürfen sie ihre Performance noch einmal präsentieren – bei der europäischen Ausgabe von »Jewrovision 2010« in Stockholm.

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