Am 9. November 1938 brannte es auf dem Hausvogteiplatz mitten im Zentrum Berlins lichterloh. Es waren keine Bücher, die die uniformierten Trupps von SA-Männern an jenem schicksalhaften Tag im Herzen der deutschen Hauptstadt vor den Augen der Öffentlichkeit den Flammen zum Fraß vorwarfen. Was hier brannte, waren Wintermäntel, Anzüge und Abendkleider. Die Kleidungsstücke waren von den Nationalsozialisten zuvor aus den Fenstern der angrenzenden Modehäuser und Kleidungsfabriken geworfen worden.
Die Gewalt des Novemberpogroms setzte der stolzen Tradition der jüdischen Schneider und Kleidermacher, die sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts am Hausvogteiplatz und den umliegenden Straßen angesiedelt hatten, ein abruptes Ende. Unter der Herrschaft des NS-Regimes wurden die über Berlins Stadtgrenzen hinaus bekannten Modebetriebe wie die von Herrmann Gerson und Nathan Israel, die spätestens ab den 20er-Jahren maßgeblich den Ruf der Hauptstadt als Konfektionsmetropole geprägt hatten, geschlossen oder »arisiert«. Die jüdischen Modemacher wurden verhaftet, vertrieben oder ermordet.
zerstörung Es ist diese bislang wenig bekannte Geschichte der Zerstörung der jüdischen Berliner Kleidungsindustrie durch die Nationalsozialisten, auf die die Ausstellung Brennender Stoff. Deutsche Mode jüdischer Konfektionäre vom Hausvogteiplatz aufmerksam machen will. Die von Studierenden des Instituts für Europäische Ethnologie an der Berliner Humboldt-Universität im Rahmen eines einjährigen Projektseminars konzipierte Schau wurde in der vergangenen Woche im Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz eröffnet. An dem heutigen Standort des Ministeriums in der Mohrenstraße 37 befand sich einst eine der jüdischen Kleiderfabriken.
»Die Zerschlagung der jüdisch geprägten Modeindustrie in Berlin durch die Nationalsozialisten ist ein nahezu vergessenes Kapitel der Geschichte«, sagte Bundesjustizministerin Katarina Barley (SPD) in ihrer Begrüßungsrede. Das Ausstellungsprojekt der HU leiste vor diesem Hintergrund einen wichtigen Beitrag zur Erinnerungsarbeit. Auch der israelische Botschafter, Jeremy Issacharoff, und Vertreter der französischen Botschaft waren zu der Eröffnungsveranstaltung gekommen.
Highlight des Abends war eine Modenschau von Studierenden der Bezalel Academy of Arts and Design Jerusalem, die eigens für diesen Anlass zusammen mit dem Berliner Designer Michael Sonntag eine Modekollektion entworfen hatten.
Die präsentierten Kleidungskombinationen sollten den thematischen Gedanken der Ausstellung aufgreifen und dienten gleichzeitig als Symbol der heutigen Zusammenarbeit – eines interdisziplinären, internationalen sowie interkulturellen Austausches. »Wir wollen zum einen an die Menschen erinnern, die von der Verfolgung betroffen waren, aber wir wollen natürlich auch ein Zeichen setzen, dass so etwas nie wieder passiert«, sagte Bundesjustizministerin Barley. Das Wissen um die Geschichte sei essenziell, um die Sinne dafür zu schärfen, wenn Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit auch in der heutigen Zeit wieder in Gefahr sind.
ausgehkultur Berlin galt in den Jahrzehnten vor dem Machtantritt der Nationalsozialisten als die Hauptstadt der Konfektion. An keinem anderen Ort der Welt wurde die Herstellung von konfektionierter Kleidung im 19. und 20. Jahrhundert so effektiv vorangebracht wie hier. Dabei waren es vor allem jüdische Modemacher, sogenannte Confectionees, die Kleidungsstücke in verschiedenen Größen auf Vorrat schneidern ließen und somit die Kleidungsindustrie revolutionierten.
Die bis heute geläufigen Größenbezeichnungen XS, S, M, L und XL gehen auf diese Zeit zurück.
Die »Goldenen Zwanziger« mit ihrem gesteigerten Bedarf an schicker Ausgehkultur und Nachtleben brachten dann endgültig den Boom für die Branche. Die Modeindustrie avancierte in Berlin zeitweise zu einem der größten Industriezweige der Stadt. Dieser wirtschaftliche Erfolg blieb auch den Nationalsozialisten nicht verborgen. So richteten sich die ersten antisemitischen Boykottaktionen im April 1933 auch gegen die jüdischen Bekleidungsgeschäfte vom Hausvogteiplatz.
Die Ausstellung Brennender Stoff thematisiert in verschiedenen inhaltlichen Abschnitten die unterschiedlichen Etappen der jüdischen Konfektionsindustrie in Berlin von ihrer Blüte, über ihren Umbruch, bis hin zu ihrem erzwungenen Untergang. Mit originalen Kleidungsstücken »von der Stange«, die sich die Studierenden aus dem Modemuseum Schloss Meyenburg in Mecklenburg-Vorpommern ausgeliehen haben, wird die Erinnerung an die einstigen Gewerbestätten am Hausvogteiplatz wie das Mode- und Einrichtungshaus der Gebrüder Horn oder das Mantelgeschäft von Valentin Mannheimer lebendig.
aufarbeitung »Unser Anspruch war es, mit dem Forschungs- und Ausstellungsprojekt einen historischen Pfahl einzuschlagen, damit sich mehr Menschen mit den jüdischen Wurzeln der Berliner Kleidungsindustrie beschäftigen«, sagte Sigrid Jacobeit. Sie ist eine der beiden Professorinnen, die das Projektseminar leiteten.
Dass heute nur so wenige Menschen über diesen Teil der Geschichte Bescheid wüssten, hätte vor allem damit zu tun, dass sich viele Modeunternehmer mit der Aufarbeitung der Vergangenheit ihrer Firmen schwertun würden. »Wer erzählt schon gerne, dass der Erfolg des Unternehmens darauf basiert, dass es jemand anderem weggenommen wurde?«, meinte Jacobeit.
Marian Vatter ist einer der Studierenden, die die Ausstellung konzipiert haben. Auch er hofft, dass die Schau dazu beitragen wird, dass die Modekonzerne ihr Schweigen brechen und ihre jeweilige Firmengeschichte aufarbeiten werden. »Berlin ist durch die Fashion Week seit mehreren Jahren als Modemetropole international bekannt«, sagt Vatter, »aber die jüdische Modegeschichte mit ihrem bedeutsamen Fundament für die Entwicklung der europäischen Konfektionsindustrie kennt kaum jemand«.
Noch bis zum 31. Oktober ist die Ausstellung Brennender Stoff im Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz zu sehen. Ab November tourt die Schau dann durch Deutschland.
www.brennender-stoff.info