Isaak Herzlich

»Wir wussten nicht, wie’s weitergeht«

von Annette Wollenhaupt

Familie Herzlich hat es sich gemütlich gemacht in ihrer Wohnung. Zum Versinken groß sind Sofas und Sessel der jadegrünen Polstergarnitur. Über dem schwarzen Klavier hängt ein altes Gemälde. »Ein Frankfurter Motiv«, sagt Isaak Herzlich. Eine junge hübsche Frau geht in einem historischen Kleid unter den Bäumen einer Allee spazieren, zwei Herren mit Zylindern stehen im Hintergrund. Über dem Esstisch ein weiteres Ölbild, darauf die Nord- oder Ostsee. »So genau weiß ich das net«, sagt der 55-Jährige mit hessischem Zungenschlag. Auch an den anderen Wänden des Wohnzimmers haben die Herzlichs Bilder platziert. Die meisten zeigen Landschaften. Deutsche Landschaften. Kein einziges Bild erinnert an die einstige Heimat der Familie, die Ukraine. »Ich brauch das net«, sagt Isaak Herzlich. Jedes Jahr fahren er, seine Frau Liliana (55) und Tochter Elena (18) in die Ukraine. »Manchmal«, sagt der ruhige Mann, »gibt es da dieses Gefühl, als ob ich noch dort lebte.« Er empfinde nicht »diese Trennung«, und zu Hause, ganz unter sich, rede man sowieso nur Russisch miteinander.
Isaak Herzlich kam im Osten der Ukraine zur Welt, in einem kleinen Städtchen, »in dem mehr Juden als Ukrainer lebten«. Nach seiner Geburt wurde er nach Sambor gebracht, einem Dorf bei Lemberg, das er erst im Alter von 49 Jahren verlassen sollte – Richtung Deutschland.
Sein Vater war Lokomotivführer. »Er fuhr zur Front, brachte den Soldaten Proviant und holte Verletzte zurück«, erzählt Isaak Herzlich. Er habe die gesamte Eisenbahnentwicklung miterlebt, angefangen mit der Dampflokomotive über die Diesellok bis zur elektrischen Eisenbahn. Die Liebe zu den großen stampfenden Maschinen hat sich auf den Sohn übertragen. »Für mich war das mit den Eisenbahnen immer etwas sehr Romantisches«, sagt Isaak. Bis heute bringt er Dampfzügen Gefühle entgegen »wie einer lebendigen Person«. Das kleine Eisenbahnerhäuschen hatte einen Garten. Isaak und seine acht Jahre jüngere Schwester Stella spielten unter Apfel- und Birnbäumen, zwischen Kartoffelbeeten und Johannisbeersträuchern. In jenen Jahren fuhren durch sein einstiges Heimatdorf allenfalls ein paar Lastwagen oder die Dienstautos der Funktionäre, allesamt russische Modelle der Marke »Wolga«.
»Damals gab es im ganzen Ort nur eine Tankstelle, heute haben wir noch mehr von denen als die Deutschen«, sagt Herzlich und muss dabei lachen. Zwei Jahre diente er in der Sowjetarmee. Sein Einsatzort: Moldawien. Danach ließ er sich zum Montageschlosser ausbilden, wurde Meister, dann Schichtleiter, später stellvertretender Abteilungsleiter und schließlich Werkhallenleiter – eine Erfolgsgeschichte. Sein Arbeitgeber war ein renommierter Messgeräteher- steller. Man fertigte für das Militär und die Atomindustrie. Auch für Tschernobyl.
Da werden Erinnerungen wach an jenen tragischen 26. April 1986, einen »wunderschönen, sehr warmen Frühlingstag«, an dem viele nichtsahnend an den Strand des Dnjepr gingen. Fast wäre Tschernobyl zu Herzlichs ganz persönlichem Verhängnis geworden. »Später«, erzählt er, »wurden viele aus unserem Betrieb zum Säubern des Reaktors abkommandiert.« Auch er, Offizier in Reserve, war als Helfer vorgesehen. Doch Isaak Herzlich war in zahnchirurgischer Behandlung, eine Prothese sollte angefertigt werden, sein ganzer Mundraum war eine offene, stark schmerzende Wunde. »Ich konnte nichts essen, nicht sprechen, doch es hat mich vor der Fahrt nach Tschernobyl gerettet.«
1992 kam Isaak Herzlich mit seiner Familie nach Deutschland. Tochter Elena war damals drei Jahre alt. Sie sollte ein neues, besseres Leben haben, wünschten sich ihre Eltern. Zunächst lebte die Kleinfamilie acht Monate in einer Hotelunterkunft in Neu-Isenburg. »Keiner von uns wusste, wie es weitergeht.« Es war eine schwierige Zeit. Die Herzlichs wollten so schnell wie möglich Deutsch lernen und eine Anstellung finden, um nicht »ins große Loch zu fallen«.
Isaak ließ sich zum Industriekaufmann umschulen und suchte ein Jahr lang intensiv nach einer Stelle. Über eine Zeitarbeitsfirma fand er schließlich eine Beschäftigung in der National Westminster Bank, wo man ihn sogar übernahm. »Es waren dreieinhalb gute Jahre«, erinnert er sich, »doch nach der Fusion mit der Bank of Scotland wurde die Filiale geschlossen.« Isaak Herzlich gab nicht auf, bildete sich weiter. Dennoch blieb er nicht verschont von Arbeitslosigkeit. »Wir haben damals eines verstanden«, sagt Herzlich: »Wer über 50 ist, kann in Deutschland kaum eine Arbeitsstelle finden.« Er schrieb eine Bewerbung nach der anderen, erhielt jedoch nicht eine einzige Einladung zu einem Vorstellungsgespräch: »Es war ein Warten ohne Hoffnung«.
Doch weil Isaak und seine Ehefrau Liliana Kämpfernaturen sind, gab es in ihrem Leben schließlich doch wieder einen Funken Hoffnung. Isaak kam auf die Idee, ein kleines, familiäres Lokal mit ost- und mitteleuropäischer Küche zu eröffnen. Das nötige Know-How lernte er in einem Existenzgründer-Zentrum. Vor wenigen Wochen eröffneten er und seine Schwester Stella Subatsch, die sechs Jahre nach ihm nach Frankfurt gekommen ist, eine Gaststätte im Frankfurter Westend. In dem kleinen Restaurant sind vor allem Spezialitäten aus Galizien und der West-Ukraine gefragt. Zum »Nachspülen« serviert Isaak Herzlich ukrainischen Wodka. Das Publikum ist bunt gemischt: Geschäftsleute, Nachbarn, Muslime und alte polnische Juden sitzen friedlich nebeneinander und lassen es sich schmecken. Und wenn der Betrieb doch auf Dauer nicht gut genug läuft? »Dann war dies eben ein Jahr, in dem wir viel gelernt haben«, sagt Herzlich.
Seine Begeisterung für Deutschland hat sich im Lauf der Jahre stark relativiert. Vor allem die Schulpolitik kann Isaak Herzlich furchtbar aufregen. »Sowjetische Schulen bedeuteten viel Stress, aber ich bin dabei nicht verrückt geworden.« In Deutschland spiele der Spaß eine zu große Rolle, »und später kommen die Schüler dann mit dem Druck nicht zurecht.«
Was ihn auch oft befremdet, sind Gespräche mit Deutschen. »Wir kommunizieren praktisch auf verschiedenen Wellenlängen.« Besonders kompliziert sei es mit den Alt-68ern. »In Deutschland gibt es nur rechts oder links, aber die goldene Mitte ist wichtig für die Stabilität eines Landes.«
Das Land, aus dem die Herzlichs ausgewandert sind, haben sie weiterhin im Blick. »Jetzt sind wir hier und sehen, welchen Ort wir verlassen haben«, sagt Isaaks Frau Liliana. Es ist ein Ort, den die beiden »irgendwie lieben«. Doch diese Liebe sei eine erwachsene, eine kritische Liebe, sagt Isaak Herzlich. »In der Ukraine haben heute die Erfolg, die Geschäfte machen, aber ich bin net so ein Typ Mensch.«

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