Türkei

»Wir leben mit Angst«

von Canan Topcu

Es sind nicht viele türkische Juden, die dieser Tage öffentlich über die Situation im Land reden möchten. Manchen sitzt die Furcht so sehr im Nacken, dass sie Gespräche am Telefon ablehnen. »Die Situation hier ist angespannt, wir leben mit der Angst, dass es nicht nur bei verbalen Attacken bleibt«, sagt einer, der nicht möchte, dass sein Name in der Zeitung erscheint. Er ist Anfang 50, in Istanbul geboren und dort aufgewachsen. Er liebt seine Stadt und sein Land. Doch in der Türkei gibt es nicht wenige, die seinen Patriotismus infrage stellen und Menschen wie ihn als Feinde des Landes und der Muslime betrachten. Denn er ist Jude. Und damit Angehöriger einer Bevölkerungsgruppe, die türkische Nationalisten und Islamisten für den Gasakrieg verantwortlich machen.
»Yahudi esittir Terrorist – Jude gleich Terrorist« titelte die islamistische Tageszeitung »Vatan« Anfang Januar und stellte die Frage, warum die jüdische Gemeinde der Türkei zu den israelischen Angriffen in Gasa schweigt. Tags darauf »informierte« das Blatt seine Leser darüber, dass der »terroristische Jude wieder Babys umbringt«.
Der Krieg in Gasa war ein Startschuss für den offenen Hass. »Bei Demonstrationen haben die Menschen ihren Antisemitismus zur Schau gestellt«, berichtet der Mann, der anonym bleiben möchte. »Sie trugen Pappschilder mit Parolen wie ›Hitler hatte recht!‹ und ›Es lebe Hitler!‹«
Unbehagen bereiten ihm und vielen anderen Juden auch Nachrichten aus der türkischen Provinz. So ließ sich in der zentralanatolischen Stadt Eskisehir der Vorstand eines Heimatvereins für die Presse mit Schildern ablichten, auf denen zu lesen war: »Juden und Armeniern ist der Eintritt ins Vereinslokal verboten« und »Hunde dürfen herein«.
Mehr als über die »Dummheit von Unreflektierten« beklagen sich türkische Juden über die Haltung des Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan. Viel zu halbherzig habe seine Aufforderung an die Bevölkerung geklungen, keine antisemitischen Ressentiments zu hegen. Überaus enttäuscht waren viele Juden auch über Erdogans Stellungnahme zum Vorfall in Eskisehir: Solch ein Verhalten sei »sehr falsch«, erklärte er lediglich.
Besorgt über die antisemitische Stimmung haben sich inzwischen auch ausländische Gruppen geäußert. Fünf jüdische Organisationen in den USA – unter ihnen das American Jewish Committee – warnten in einem Brief an Erdogan vor einem zunehmenden Antisemitismus in der Türkei. Einer von denen, die sich im Inland zu Wort melden, ist der Schriftsteller Roni Margulies, 54. Der Istanbuler Jude wirft der türkischen Gesellschaft und seinen Politikern Antisemitismus vor und beklagt, dass sie sich nicht schützend vor ihre jüdischen Bürger stellen.
Die Angst vor Übergriffen kommt nicht von ungefähr. Immer wieder wurden Nichtmuslime zur Zielscheibe, zuletzt der armenische Journalist Hrant Dink, dessen Todestag sich kürzlich zum zweiten Mal jährte. Er wurde im Auftrag türkischer Nationalisten ermordet, weil er die offizielle Haltung der Türkei zum Genozid an den Armeniern kritisiert hatte.
Frisch sind ebenfalls die Erinnerungen an die Anschläge auf zwei Synagogen in Istanbul: Im November 2003 wurden dabei 25 Menschen getötet und mehr als 300 verletzt. Überfälle auf Synagogen gab es in Istanbul auch 1986 und 1992. Im Gedächtnis geblieben sind außerdem die als »die Ereignisse des 6. und 7. September« umschriebenen pogromartigen Überfälle im Istanbuler Stadtteil Beyoglu. Eine aufgebrachte Menge stürmte am Abend des 6. September 1955 das Viertel der Nichtmuslime, plünderte Läden, setzte Gebäude in Brand. Das Volk wollte sich rächen für das Feuer im Geburtshaus von Atatürk. Die Überfälle in Beyoglu gehörten lange Zeit zu den unbearbeiteten Kapiteln der türkischen Geschichte und bedeuten eine Zäsur für die Minderheiten: Viele verließen danach das Land.
Der Mann in Istanbul, der nicht möchte, dass sein Name in der Zeitung steht, kam zwei Jahre später zur Welt. Mit Berichten über die Plünderungen in Geschäften von Juden, Christen und Armeniern ist er groß geworden und weiß, wozu aufgehetzte Menschen fähig sind. Das ist der Grund, warum er unerkannt bleiben will.

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