von Micha Brumlik
Sofern der israelische Staat für sich kein besonderes Recht proklamiert, sind die im Zuge der Operation »Gegossenes Blei« geführten Bombenangriffe auf städtische Zentren in Gasa nicht nur unverhältnismäßig, sondern bereits im Grundsatz völkerrechtlich verboten. Die Maßgaben des humanitären Kriegsvölkerrechts sind eindeutig. Das 1977 geschlossene 43. Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte legt in Artikel 51 (4) fest, dass »unterschiedlose Angriffe« verboten sind und präzisiert in Art. 51 (5, b), dass ein Angriff als unterschiedlos anzusehen ist, »bei dem damit zu rechnen ist, dass er auch Verluste an Menschenleben unter der Zivilbevölkerung, die Verwundung von Zivilpersonen, die Beschädigung ziviler Objekte oder mehrere derartige Folgen zusammen verursacht, die in keinem Verhältnis zum erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Vorteil stehen«.
Die bindende völkerrechtliche Bestimmung verweist auf ein nicht nur juristisches, sondern moralisches beziehungsweise politisches Problem: Wie misst man die Verhältnismäßigkeit zwischen Verlusten an Menschenleben und Kriegszielen? Dabei lautet die moralische Frage, ob man überhaupt bereit sein darf, menschliches Leben gegen menschliches Leben aufzurechnen. Zweitens aber ist, sofern man sich zu einer solchen Aufrechnung durchringt (was juristisch zulässig wäre) zu überprüfen, worin der erwartete konkrete und unmittelbare militärische Vorteil besteht. Folgt man den Verlautbarungen des israelischen Militärs, so besteht der »konkrete Vorteil« in der Beendigung eines Raketenbeschusses, der die israelische Bevölkerung bei einer geringen Zahl von To- desopfern beunru- higt und irritiert hat, sowie des Waffenschmuggels, der diesen terroristischen Raketenbeschuss ermöglichte.
Als unmittelbarer »militärischer Vorteil« gilt demgegenüber das Ende feindlichen Feuers auf die vorrückenden israelischen Truppen. Nach von der israelischen Presse beglaubigten Angaben befanden sich unter den mehr als 1.000 palästinensischen Opfern mindestens 350 getötete Kinder, was bei dieser Art der Kriegsführung in einer ausweglos eingekesselten Stadt unvermeidlich ist.
Steht also der Tod von 350 Kindern in einem akzeptablen Verhältnis zur Unterbindung des Waffenschmuggels und zur Abwehr feindlichen Feuers auf die vorrückenden israelischen Truppen? Das ist, sofern man davon ausgeht, dass Kinder, die auch in einem weit gefassten, politischen Sinn nicht zur feindlichen Partei gehören können, offensichtlich nicht der Fall. Ist es wirklich so, dass die Wahrscheinlichkeit, dass ein Israeli einer Kassamrakete zum Opfer fällt, schwerer wiegt als der Tod eines unschuldigen Kindes?
Schließlich: Auf eine derartige Abwägung darf man sich nur dann einlassen, wenn sichergestellt ist, dass die Inkaufnahme des Todes unzähliger Unschuldiger der Preis für eine alternativlose Notwehr ist.
Genau dies ist fraglich: War die Operation »Gegossenes Blei« tatsächlich ein in jeder Hinsicht alternativloser Fall von Notwehr, ohne den Leib und Leben israelischer Bürger und des Staats im Ganzen kurzfristig, unmittelbar und substanziell gefährdet waren? Das war wohl kaum der Fall, denn es spricht einiges dafür, dass es gar nicht um Leib und Leben israelischer Bürger, sondern lediglich um ihre Stimmen bei der bevorstehenden israelischen Parlamentswahl ging. Dies würde bedeuten, dass der Tod von 350 Kindern aus wahltaktischen Gründen in Kauf genommen wurde.
Daran ändert auch ein »chirurgisches« Bombardement nichts, weil der erfahrenen militärischen und politischen Führung bekannt sein musste, dass diese Art des Bombenkrieges keineswegs nur Kombattanten trifft – zumal in dicht besiedelten Wohngebieten, aus denen die Zivilbevölkerung noch nicht einmal fliehen kann. Es zeugt von moralischem Unverstand, die Verantwortung für diese zivilen Toten der Hamas zuzuschreiben, und zwar aus einem einfachen Grund: Die israelische Regierung und die israelische Luftwaffe sind keine Reaktionsdeppen, die automatisch, ob sie wollen oder nicht, einen derartigen Bomben- krieg führen müssen – etwa so, wie ein erzürnter Kampfstier auf das rote Tuch des Toreros zustürzen muss.
Regierung und Generalstab hatten im Unterschied zum Stier die Möglichkeit zur Abwägung. Das hebräische »Ejn Breira«, das dem TINA-Prinzip (there is no alternative) entspricht, ist Ausdruck einer Flucht aus der Verantwortung. Weil das so ist, zeugen hierzulande abgegebene Bekenntnisse wie »Wir werden den Palästinensern niemals verzeihen, dass sie uns gezwungen haben, ihre Kinder umzubringen” nur von falsch verstandener Solidarität.