von Micha Guttmann
Ein Rassismusvorwurf wiegt schwer. Nicht nur in Deutschland. Hier aber hat er besonderes Gewicht. Leider wird der Vorwurf aber in der Öffentlichkeit oft bewusst eingesetzt, um politische Gegner zu diskriminieren, ähnlich wie es in Vergleichen mit der Nazizeit geschieht. Dies ist um so bedauernswerter, als mit diesen Vorwürfen und Vergleichen die damaligen Verbrechen verharmlost werden.
Wenn jetzt ein jüdisches Paar und Vertreter des liberalen Judentums in London den Rassismusvorwurf gegenüber einer jüdischen Schule erheben, müssen wir aufhorchen (vgl. JA vom 28. Februar). Besagte Schule, die größte orthodoxe in Europa, hat der Tochter des Ehepaars die Aufnahme verweigert, weil ihre Mutter in Israel bei einem nichtorthodoxen Rabbinergremium zum Judentum übergetreten war. Die Schule erkennt den Übertritt nicht an, was zur Folge hat, dass die Tochter nach orthodoxem Verständnis nicht jüdisch ist. Da sich eine innerjüdische Beilegung des Konflikts nicht ergab, liegt der Fall nun dem High Court in London vor, also säkularen Richtern der allgemeinen Gerichtsbarkeit. Der Vorwurf: Die Aufnahmepraxis der Schule sei diskriminierend und rassistisch. Die Schule müsse jüdische Kinder ungeachtet ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten religiösen Richtung aufnehmen.
Der Rassismusvorwurf ist hierbei eher Resultat verständlicher Gefühlsaufwallungen und sorgt für Schlagzeilen in den Medien. Für die jüdische Familie ist die Schulentscheidung allemal diskriminierend. Und der Fall wirft Fragen auf, die auch hier in Deutschland von großer Relevanz sind. Mit dem Mitgliederwachstum der jüdischen Gemeinschaft durch die Zuwanderung werden diese Probleme sogar immer aktueller und dringlicher.
Dürfen jüdische Gemeinden und ihre Rabbiner einseitig entscheiden, welche Aufnahmen ins Judentum sie akzeptieren und welche nicht – mit der Folge, dass im positiven Falle die Antragsteller Mitglieder werden, im Ablehnungsfall draußen bleiben? Dürfen Entscheidungen über menschliche Schicksale, bei denen oft Kinder betroffen sind, anhand einer Auslegung jüdischen Rechts getroffen und andere Auslegungen des Rechts ignoriert werden? Darf eine orthodoxe Minderheit in der Einheitsgemeinde der nichtorthodoxen Mehrheit ihre Überzeugungen aufzwingen? Diese Diskussion hat nichts mit Rassismus zu tun, aber viel mit jüdischer Identifikation in einer sich weiterentwickelnden, demokratisch verfassten Gesellschaft, wie sie sich in Europa strukturiert. Und wie sie jüdische Ge-
meinden auch begrüßen, denn nur in demokratisch verfassten Gesellschaften können jüdische Gemeinden sicher und frei von äußeren Zwängen bestehen.
Im Deutschland der Nach-Schoazeit war die Bereitschaft groß, in einer Gemeinschaft von nicht einmal 30.000 Gemeindemitgliedern und nur einer Synagoge am jeweiligen Ort orthodoxen Ritus zu übernehmen, obwohl viele Gemeinden vor 1933 der liberalen Richtung angehörten. Diese Einheitsgemeinde, die damals als einzige Möglichkeit jüdisches Überleben in Deutschland garantieren konnte, steht heute auf dem Prüfstand. Nur wenn sie unter ihrem Dach auch liberale und sogar Reformströmungen vereinen kann, wird sie eine Zukunft haben. Dies bedeutet aber auch, dass orthodoxes und liberales Religionsverständnis gleichberechtigt nebeneinander stehen. Die Frage, wer religionsgesetzlich Jude ist, darf dann nicht allein der orthodoxen Regelung vorbehalten bleiben. Diese Entwicklung entspricht auch dem Mehrheitswillen der Gemeindemitglieder. Und sie geht konform mit unserem Verständnis der grundgesetzlich und vom Staat gesicherten Religionsfreiheit unter dem prägenden Gedanken der Toleranz und des gleichberechtigten Miteinanders.
In der Praxis werden sich neue jüdische Schulen in Deutschland, sofern sie nicht in Privatregie geführt werden, hierauf einstellen müssen. Doch die Gleichberechtigung der verschiedenen Strömungen des Judentums wird auch zur Folge haben, dass in anderen Lebensbereichen ebenfalls liberale Auslegungen der Religionsgesetze berücksichtigt werden müssen. Nur dann lassen sich auch pragmatische Lösungen finden, wie sie im Alltag der Gemeinden dringlich werden, etwa für den verständlichen Wunsch der Menschen, die einen nichtjüdischen Partner haben, gemeinsam auf einem jüdischen Friedhof bestattet zu werden. In wenigen jüdischen Gemeinden in Europa ist dies heute schon möglich, doch viele verweigern sich.
Die jüdische Gemeinschaft in Deutschland wird sich stärker als bisher diesem Streit um Identität, Glauben und Überzeugungen stellen müssen. Einem Streit, der für die Zukunft der Gemeinden und ihrer Mitglieder lebenswichtig ist.
Der Autor ist Rechtsanwalt und Journalist und war von 1986 bis 1992 Direktoriumsmitglied und Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland.