Aw

Trost und Zuversicht

von Rabbiner Berel Wein

Dem Monat Aw wird traditionell das Wort Menachem beigefügt, was Trost und Zuspruch bedeutet. Man spricht also von »Menachem Aw«. Dennoch ist und bleibt er der traurigste Monat des jüdischen Ka-
lenders.
Trost ist ein großes Wort. In Wirklichkeit aber ist es schwer, Trost zu erlangen. Dies gilt für jeden Einzelnen, der einen geliebten Menschen verloren hat. Doch trifft es auch für das jüdische Volk als Ganzes zu. Bis heute gibt es im Hinblick auf die schreckliche nationale Tragödie des Holocaust keinen Trost, obwohl das Ereignis mehr als sechs Jahrzehnte zurück-
liegt. Juden wird das nicht weiter überraschen, denn das jüdische Volk ist auch immer noch weitgehend untröstlich über die Zerstörung unseres Tempels und über unser Exil – Ereignisse, die beinahe zwei Jahrtausende alt sind.
Keine Person oder Institution des jüdischen Lebens ist unentbehrlich. Aber sie sind auch nicht ersetzbar. Die Leere, die aufgrund dieser Unersetzbarkeit zurück-
bleibt, verhindert, dass echter Trost zur Wirkung kommen kann. Daher blieb das jüdische Volk stets ruhelos und war in dem langen Exil, das wir erdulden muss-
ten, viele Male sogar orientierungslos. Die Traurigkeit der ersten zehn Tage des Mo-
nats Aw durchdringt uns und hallt in uns nach, eben weil uns das Gefühl von Ab-
schluss und Trost fehlt.
Der Talmud sagt, es gebe eine himmlische Entscheidung, die in denen, die noch leben, das Vergessen der Verstorbenen er-
zeugt. Doch wenn das Objekt der Trauer, der Verzweiflung und des Gefühls nicht wirklich tot, sondern nur abwesend ist – wie im Fall der Trauer Jakobs über den Verlust von Josef –, fehlt eben dieses Gefühl von Abschluss und Trost. Das ist der Grund, weshalb die Tora uns von Ja-
kobs Unfähigkeit berichtet, von seiner Familie und seinen Freunden Zuspruch und Trost anzunehmen. Josef war nicht tot. Der himmlische Beschluss des Vergessens, der Trost möglich macht, galt nicht in seinem Fall. Deshalb gab es für Jakob keinen Trost.
Ich glaube, die Tatsache, dass das jüdische Volk noch immer die Pein des Holocaust erleidet, ist auf eine vertrackte und seltsame Weise den intensiven Bemühungen der jüdischen Gemeinschaft zuzuschreiben, die alles tut, um zu verhindern, dass ein Vergessen des Holocaust sich einschleicht. Es sind die Holocaustleugner, die uns in ein falsches Gefühl des Trostes einlullen möchten, indem sie verkünden, es sei vorbei und man solle die Vergangenheit ruhen lassen.
Die Bibel berichtet uns, wie unsere Mutter Rachel sich weigert, Trost zu finden angesichts des Exils ihrer Kinder. Denn sie war überzeugt davon, dass sie nicht für immer verloren oder verbannt seien, sondern dass sie zurückkehren würden. Mithin gibt es eine positive Seite des »Ungetröstet-Seins«. Es ermöglicht die Verbin-
dung zu einer unbekannten Zukunft, die nicht nur Trost spenden, sondern auch ersetzen wird, was oder wer verloren war.
Die Traurigkeit und Anspannung der ersten Hälfte des Monats Aw sind auch Jahrhunderte nach der Zerstörung des Tempels noch immer Teil unseres Lebens, einfach deshalb, weil tief im Herzen und in der Psyche des jüdischen Volkes der Tempel nicht für immer, sondern nur vorübergehend verloren ist. Die große Unternehmung des jüdischen Volkes in den vergangenen beiden Jahrhunderten, die Rück-kehr von Millionen in das Land Israel und die Errichtung des jüdischen Staates in unserem historischen Heimatland, bezeugt die Tatsache, dass das Land Israel und die Geschichte des Tempels für die Juden längst nicht vergessen waren.
All jenen jüdischen Gemeinschaften und Individuen, die verkündeten, dass »Berlin unser Jerusalem« ist, und die dauerhaften Trost darin suchten, »gute« Deutsche, Russen, Polen und so weiter zu sein, ist es in Gottes Welt nicht gut ergangen.
Der Prophet warnt uns davor, »sorglos in Zion zu sein«. Im Land Israel zu leben ist keine tröstliche Erfahrung, obgleich es eine heilige, herausfordernde und inspirierende Erfahrung ist. Denn im Land Israel zu leben macht uns bewusst, was wir ge-
gen alle Schwierigkeiten geleistet haben, und lässt uns gleichzeitig erkennen, was noch fehlt. Das Wissen um das Fehlende ist es, was uns daran hindert, dass wir »sorglos in Zion« sind. So symbolisiert der Monat Aw die Angst und die Herausforderung, die darin liegen, ein jüdisches Leben zu leben. Und er symbolisiert, was es heißt, dankbar zu sein für das, was wir ha-
ben. Und, dass wir uns angesichts dessen, was uns fehlt, eine Empfindung für den Verlust bewahren. Möge dieser Monat uns das Gefühl von Menachem schenken – von einer besseren Zeit und dem wahren Trost, der uns von Gott und Seinen Propheten verheißen ist.

Mario Voigt mit Stimmen der Linken zum Ministerpräsident gewählt

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