Die Juden verdienen wie Angehörige der episkopalischen Konfession, wählen aber wie Puertorikaner. Seit der jüdisch-amerikanische Soziologe Milton Himmelfarb diesen treffenden Witz machte, ist viel Wasser den Hudson hinuntergeflossen. Das Abstimmungsverhalten der Puertorikaner hat sich über die Jahre verändert: Immer mehr Amerikaner hispanischer Abstammung haben angefangen, konservativ zu wählen – eine logische Folge ihres gesellschaftlichen Aufstiegs in den Mittelstand. Die amerikanischen Juden aber sind der demokratischen Partei unerschütterlich treu geblieben. So wählten 80 Prozent von ihnen Bill Clinton, danach stimmten 78 Prozent für Al Gore (und gegen George W. Bush). Häufig handelt es sich hier um eine Familientradition, die von Generation zu Generation weitergegeben wird: »Mein Vater war Demokrat, mein Großvater war Demokrat«, sagt ein Mitglied der (orthodoxen) Gemeinde B’nei Jacob in Brooklyn. »Für mich war es nie eine Frage, wen ich wählen soll.«
Karl Marx schrieb, das soziale Sein bestimme das politische Bewusstsein. Die amerikanischen Juden strafen dieses Diktum Lügen: Schließlich gehören sie längst zum Establishment. Sie sollten sich also (wie die reichen episkopalischen Protestanten) aus ökonomischem Interesse zu einer Partei hingezogen fühlen, die ihnen niedrige Steuern verspricht. Aber das Lebensgefühl der Juden entspricht nicht ihrem gesellschaftlichen Status, also zeigen sie den Konservativen die kalte Schulter. Alan Mittleman, der am Jewish Theological Seminary in New York jüdische Philosophie unterrichtet, sieht darin eine Spätfolge der tiefen existenziellen Verunsiche- rung durch den Holocaust.
Allerdings weist Mittleman auch darauf hin, dass Juden nicht immer Anhänger der Demokraten waren. Am Ende des neunzehnten, Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts wählten sie republikanisch. Die Republikaner waren damals noch die Partei des Sklavenbefreiers Abraham Lincoln; die Demokraten dagegen galten als zutiefst korrupt, außerdem hatten sie in den Südstaaten während des Bürgerkriegs entschieden auf der falschen Seite gestanden. All das änderte sich mit Franklin Delano Roosevelt, der ins kollektive Gedächtnis der amerikanischen Juden als eine Art Halbgott einging. Warum? »Weil viele Juden durch Roosevelts New Deal in den 30er-Jahren Jobs bekommen haben«, antwortet Alan Mittleman. Außerdem hat dieser Präsident die USA in den Krieg gegen Hitlerdeutschland geführt. Für europäische Ohren mag die Verherrlichung von FDR seltsam klingen – immerhin erlaubte Roosevelt der »St. Louis« nicht, in Florida zu landen, so dass die Passagiere, Hunderte jüdische Flüchtlinge aus dem Nazireich, zurück in die Hölle transportiert wurden. Während des Krieges hatten die Amerikaner unter dem großen FDR keine einzige Bombe für Auschwitz übrig.
Was aber macht die Demokraten für Juden im Kern so attraktiv? »Zum einen gelten die Demokraten als Partei der Minderheiten«, sagt Alan Mittleman, »ob es sich nun um die Schwulen oder die Schwarzen oder jemand anderen dreht. Zum anderen haben sich die Werte der jüdischen Religion für viele amerikanische Juden, die eher säkular sind, in ein allgemeines soziales Gerechtigkeitsempfinden verwandelt.« Schaut man die Ergebnisse einer Umfrage an, die das American Jewish Committee 2007 durchgeführt hat, wird deutlich, wie linksliberal die Mehrheit der amerikanischen Juden empfindet. Als wichtigste Themen gelten Wirtschaft und Arbeitsplätze, knapp gefolgt von der Gesundheitsreform. Und: 67 Prozent der Befragten halten den Irakkrieg im Rückblick für einen Fehler.
Die große Nachricht der vergangenen Tage war, dass Barack Obama bei den Vorwahlen in Iowa Hillary Clinton abgehängt hat. Hillary gilt nun nicht mehr als unbesiegbar. Es könnte tatsächlich sein, dass der nächste Kandidat der demokratischen Partei Obama heißt. »Ich mag ihn nicht«, sagt ein Mitglied von B’nei Jacob in Brooklyn. »Nicht, weil Obama schwarz oder Muslim ist« (hier handelt es sich um ein Gerücht; Barack Obama ist gläubiger Christ), »sondern weil er keine außenpolitischen Erfahrungen hat.« Ein anderes Mitglied von B’nei Jacob widerspricht: »Ich mag Obama. Er erinnert mich an Kennedy. Aber ich weiß nicht, was er über Israel denkt.« Alan Mittleman glaubt nicht, dass Barack Obama für Juden ein Grund wäre, sich in nennenswerter Zahl von den Demokraten abzuwenden. Hillary Clinton sei zwar die bevorzugte Kandidatin, Obama aber hielt im März 2007 in Chicago eine Rede vor AIPAC, dem American Israel Public Affairs Committee, die dort sehr gut ankam.
»Obwohl die jüdische Gemeinde in Amerika keineswegs monolithisch ist«, erklärt Alan Mittleman, »muss jeder Kandidat, um für Juden wählbar zu sein, eine Art Israel-Test bestehen. Er muss die richtigen Dinge sagen. Die Mehrheit der amerikanischen Juden würde zwar eine Zweistaatenlösung im Nahen Osten begrüßen, wäre aber gleichzeitig dagegen, Jerusalem wieder zu teilen und ist pessimistisch, ob es in unserer Generation noch zu einer Friedenslösung mit den Palästinensern kommen kann.« Laut Umfrage des American Jewish Committee waren 59 Prozent der Juden Amerikas 2007 »sehr besorgt«, dass der Iran sich Atomwaffen beschaffen könnte; »etwas besorgt« waren 33 Prozent (und nur sieben Prozent wollten in einem nuklear bewaffneten Iran überhaupt keine Gefahr sehen). In puncto Israel gebe es keinen Dissens zwischen Demokraten und Republikanern, fährt Alan Mittleman fort – beide stimmten überein, dass die Sicherheit des jüdischen Staates garantiert werden muss.
Was macht die Republikaner für die allermeisten Juden dann so unwählbar? »Die Trennung von Kirche und Staat ist für amerikanische Juden ein extrem wichtiges Thema«, erläutert Mittleman. »Für sie ist das mehr als eine rechtliche Frage: Es ist eine Utopie. Juden sehen in der Trennung von Kirche und Staat den Geist der amerikanischen Verfassung. Was die Republikaner in den Augen der Juden so unattraktiv macht, ist ihr Bündnis mit den Evangelikalen, den fundamentalistischen Protestanten. Wenn Amerika anfinge, sich über das Christentum zu definieren, sähen die Juden sich als Minderheit an den Rand gedrückt.«
Der einzige republikanische Kandidat, der viele jüdische Wählerstimmen auf sich ziehen könnte, wäre also derjenige, der sich im Moment kaum noch Chancen ausrechnen kann: Rudy Giuliani. Für ihn sprechen gleich drei Argumente. Giuliani ist aus New York; er hat sich geweigert, öffentlich ein religiöses Bekenntnis abzulegen; und er hat versprochen, dass der Iran unter seiner Präsidentschaft nicht in den Besitz der Atombombe gelangen werde. Und wie verhält es sich mit John McCain? »Nein«, sagt Alan Mittleman. »Die amerikanischen Juden werden ihm nicht verzeihen, dass er Amerika eine christliche Nation genannt hat.« Fazit: Ginge es allein nach den Juden, spräche nichts gegen einen Präsidenten Obama. Indessen stellen Juden – auch wenn Antisemiten das kaum glaubhaft finden mögen – nur drei Prozent der Bürger Amerikas.
Juden in Amerika