Mormonen

Seid umschlungen

von Hannes Stein

Um den Affront ermessen zu können, den die Offenbarungsgeschichte der Mormonen bedeutet, muss man sie sozusagen ins Bayerische übersetzen. Also: Man stelle sich vor, dass es da in den 30er-Jahren des 19. Jahrhunderts einen Bauernbub gab – nennen wir ihn den Schmied Sepp –, der seit seiner Kindheit auf dem Bauernhof Besuch von einem Engel bekam. In einer Nacht erschien ihm der Engel dann drei Mal und führte ihn zu einem Hügel, in dessen Erde goldene Tafeln mit einer altägyptischen Inschrift begraben waren. Der Schmied Sepp musste warten, bis er ein junger Mann geworden war, ehe er die Tafeln ausgraben durfte. Dann übersetzte er sie mithilfe eines Sehersteins, den er in einem Hut verbarg; das heißt, er steckte sein Gesicht beim Übersetzen immer wieder in jenen Hut, um sich Inspirationen zu holen. Als er fertig war, trug er die Tafeln zurück und buddelte sie brav wieder ein. Das Buch aber, das der Schmied Sepp in ungelenkem Deutsch schrieb, wurde zum Fundament des Glaubens von Millionen Menschen, die sich als »Kirche Jesu Christi der Heiligen der letzten Tage« bezeichnen.
In Wirklichkeit hieß der Schmied Sepp, der Besuch von dem Engel bekam, natürlich Joseph Smith, und er erlebte seine Offenbarung nicht in Bayern, sondern in der Neuen Welt. Die Vereinigten Staaten von Amerika waren gerade mal ein halbes Jahrhundert alt, und infolge des ersten Verfassungsgrundsatzes, der die Religionsfreiheit garantiert, explodierte in dem jungen Staat das religiöse Leben wie ein Feuerwerk. Jede noch so obskure protestantische Sekte, die in Europa verboten oder verfemt war, konnte sich in Amerika nach Gusto ansiedeln und um neue Mitglieder werben; der Staat hatte sich da nicht einzumischen. Sogar die Katholiken, sogar die Juden waren in der Neuen Welt willkommen. Aber welcher von den 1001 Wegen, die zu Gott führten, war denn nun der richtige? Auf diese quälende Frage gab Joseph Smith eine Antwort: Sämtliche bisherigen christlichen Konfessionen seien Verfälschungen des wahren Glaubens gewesen. Mit der Offenbarung, die der Bauernbub aus Amerika empfangen hatte, habe die Heilsgeschichte ihren vorläufigen Abschluss gefunden.
Gegenüber den Juden war die neue Konfession (oder Religion?) des Joseph Smith ausgesprochen freundlich. Zwar wurden die Kinder Israels weiterhin als erlösungsbedürftig betrachtet, da sie ja Jesus nicht als den Messias anerkannten; gleichzeitig aber seien sie doch das von Gott auserwählte Volk geblieben. »Und nicht mehr zischen sollt ihr noch schmähen noch verfolgen die Juden oder einen anderen Rest des Hauses Israel«, heißt es im Buch Mormon, »denn siehe, der Herr gedenkt seines Bundes mit ihnen, und er wird ihnen tun, was er ihnen versprochen hat« (3. Nephi 29,8).
Die Mormonen sind auch deshalb so philosemitisch, weil sie sich selbst für Juden halten. Jedenfalls irgendwie. Das Buch Mormon berichtet nämlich, dass in biblischer Zeit eine Familie, die von Menasse abstammte, Jerusalem verließ und sich in Amerika ansiedelte. (Vielleicht hatte sie ja in der Greencard-Lotterie gewonnen.) Auf Befragen erklären Mormonen meist, dass sie Israeliten aus dem Hause Josef seien. Wer nicht als Mormone geboren wurde, sondern zum Mormonenglauben konvertiert, gehört dem Haus Josef dann eben durch Adoption an. Der große Tempel der Mormonen, der in Salt Lake City steht, hat ein großes Fenster mit dem Davidstern in der Mitte. Fromme Mormonen betonen gern, dass ihre Religion dem Judentum sehr ähnlich sei: Sie betonten das Familienleben, heiligten den siebten Tag, hielten sich an Speiseregeln (kein Alkohol, kein Koffein) und trügen überdies Unterwäsche, die an den »Tallit katan« erinnert.
Außerdem verfügen die Mormonen über eine veritable eigene Verfolgungsgeschichte. Ihr Glaube ist aus christlicher Sicht zumindest unorthodox (laut dem Buch Mormon hat Gottvater einen »perfekten Kör- per«, und Menschen können, wenn sie sich gut benehmen, gottgleich werden). Misstrauen bei den protestantischen Nachbarn erregte auch, dass die Mormonen so eng zusammenhielten. Der Prophet der Kirche, Joseph Smith, wurde von einem wütenden Mob in Illinois ermordet. Der Gouverneur von Missouri, Lilburn Buggs, gab 1838 die Mormonen zum Abschuss frei, da sie offen die Gesetze missachteten und »Krieg gegen die Bevölkerung dieses Staates« geführt hätten: »Die Mormonen müssen als Feinde behandelt und wenn notwendig ausgetilgt oder aus diesem Staat vertrieben werden, um des öffentlichen Friedens willen – ihre Missetaten spotten aller Beschreibung.« (Dieses Gesetz wurde erst 1976 offiziell widerrufen.)
Die Antwort auf Verfolgungen und Massaker war, dass die Mormonen unter dem neuen Anführer der Kirche, Brigham Jones – der häufig als »amerikanischer Moses« bezeichnet wird – gen Westen zogen, in einem Exodus, der nun allerdings stark an den Auszug aus Ägypten erinnerte. Ziel des Trecks war Utah, das damals noch nicht zu den USA, sondern zu Mexiko gehörte; tatsächlich handelte es sich um Niemandsland. Dort, irgendwo im Nirgendwo, in einem Wüstental am Ufer eines Salzsees, gründeten die vertriebenen Mormonen ihr eigenes Zion: Salt Lake City.
Das alles klingt nun so, als könnten die Beziehungen zwischen Mormonen und Juden gar nicht besser sein. Tatsächlich wurde ein deutscher Jude namens Simon Bamberger anno 1916 Gouverneur des Staates Utah. Legendär ist die Geschichte, wie er bei seiner Wahlkampftour in einer Kleinstadt von norwegischen Einwanderern empfangen wurde, die gerade erst zum Mormonenglauben konvertiert waren. Er könne gleich wieder nach Hause fahren, beschieden sie ihm, nie und nimmer würden sie einem »Gentile«, einem Nichtmormonen, also kurz und gut: einem Goj, zuhören! Simon Bamberger antwortete verblüfft, er habe ja im Leben schon allerhand Schimpf über sich ergehen lassen müssen – aber als Goj habe ihn noch keiner bezeichnet. Er sei Jude. Daraufhin legte der baumlange Anführer der norwegischen Mormonen ihm brüderlich den Arm um die Schulter und rief begeistert aus: Als Jude sei Simon Bamberger doch genauso ein Israelit wie sie selber!
Gleichwohl muss ein ernsthafter Streit zwischen den Anhängern von Joseph Smith und den Juden gemeldet werden. Es ist nämlich so: Die Mormonen haben das Problem, dass es Leute gab, denen verwehrt war, die gute Nachricht zu hören, weil sie lange vor der Offenbarung geboren wurden, mit enormer theologischer Konsequenz gelöst. Sie führten die »Taufe für die Toten« ein. Dabei steigt ein Mormone ins Taufbecken, während ein anderer die Namen von Nichtmormonen verliest, die nun dank dieser Zeremonie posthum des Heils teilhaftig werden. Wegen der Totentaufe haben sich die Mormonen zu Spezialisten der genealogischen Forschung entwickelt. Es heißt, die Familienstammbäume von zwei Milliarden Menschen seien in den Salzstöcken von Utah gespeichert.
Weniger lustig ist, dass Mormonen auch tote Juden nachträglich eingemeinden. Wer etwa glaubt, bei Raschi, Einstein, Menachem Begin und Marc Chagall habe es sich um große Söhne Israels gehandelt, der irrt aus Sicht der Mormonen grundsätzlich – sie alle wurden nach dem Tod getauft. Irgendwann stellte sich heraus, dass die Mormonen auch Juden, die im Holocaust umkamen, jener Zeremonie der Totentaufe un- terzogen, und da hört der Spaß endgültig auf. 1995 versprach die »Kirche Jesu Christi der Heiligen der letzten Tage«, sie wolle künftig keine jüdischen Namen mehr für sich vereinnahmen – mit einer Ausnahme: Wenn Juden von sich aus zum Mormonenglauben konvertieren, dürfen sie ihre verstorbenen Familienangehörigen sozusagen mitnehmen.
Wird dies jetzt auch Tom Lantos blühen, dem einzigen US-Kongressabgeordneten, der ein Schoaüberlebender war? Lantos, ein unerschrockener Streiter für Israel und die Menschenrechte, bekannte sich offen zu seinem Judentum; seine Frau aber – eine Jugendliebe, die wie er in Ungarn den Völkermord überlebt hatte – war in den USA Mormonin geworden, und Lantos’ beide Töchter wurden in Smith’ Glauben erzogen. Ob also jetzt auch Tom Lantos im Tode dem Volk, dem er angehörte, entrissen wird?
Eines ist klar: Mormonen haben sich in den vergangenen Jahren immer wieder dabei erwischen lassen, wie sie Juden, die gar nichts mit ihnen zu tun hatten, posthum frech zu ihren Glaubensbrüdern erklärten. Die offizielle Erklärung dafür war, dass nicht alle Mormonen den Maßgaben der Kirchenleitung in Salt Lake City gehorchten. Außerdem, hieß es patzig, seien sie nicht verpflichtet, bei jedem Familienstammbaum, der ihnen in die Finger falle, erst einmal zu prüfen, ob es sich vielleicht um einen jüdischen Stammbaum handle.
Hier besteht wohl weiterhin verschärfter Diskussionsbedarf. Die Juden befinden sich dabei insofern im Nachteil, als sie bekanntlich nicht den Ehrgeiz haben, die ganze Welt jüdisch zu machen. Sie können also nicht neben der Klagemauer in Jerusalem ein symbolisches Riesenmesser aufhängen und sämtlichen Mormonen, die je die Erde bevölkert haben, mit der posthumen Beschneidung drohen.

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