von Christine Schmitt
Sie hat noch viel vor im Leben. Theateraufführungen möchte sie besuchen, Konzerten lauschen, Freunde einladen und auch noch turnen und schwimmen ge-
hen, strahlt Ella Lerner. Und nun wartet die 82-Jährige ungeduldig auf ihren Internet-Anschluss: »Ich will doch wissen, was in der Welt so los ist.« Das wird noch etwas dauern, denn erst vor wenigen Tagen ist sie umgezogen. Ihre Möbel stehen schon, aber viele Kartons sind noch nicht ausgepackt. Es herrscht ein wenig Chaos – aber ansonsten fühlt sie sich »wie im siebten Himmel. Mir ist es vergönnt, im Alter so gut zu wohnen.« Ihre neue Adresse lautet: Seniorenzentrum der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, Jeanette-Wolff-Heim.
Dort wird seit einem Jahr betreutes Wohnen angeboten. Für Menschen wie Ella Lerner, die noch rüstig sind, aber ganz gern wissen, dass jemand in der Nähe ist. Für den Fall der Fälle. »Es ist die Wohnform der Zukunft«, sagt Sigrid Wolff, die das Seniorenzentrum zusammen mit ihrem Mann Garry leitet. Im Jeanette-Wolff-Heim stehen 73 Ein- und Zweizimmerappartements, die zwischen 40 und 60 Quadratmeter groß sind, zur Verfügung. Zwei Drittel sind derzeit belegt. »Wer allein sein möchte, kann sich zurückziehen, aber wer Lust auf Gesellschaft und Unterhaltung hat, kann an unserem Angebot teilnehmen«, so Sigrid Wolff.
Neben jüdischen Feiern und dem wö-
chentlichen Kabbalat Schabbat gibt es Angebote für Gymnastik, Gedächtnistraining und Vorträge zu aktuellen Themen. Je nach Bedarf können die Bewohner selber entscheiden, ob sie sich die Mahlzeiten lieber selber zubereiten, im Speisesaal essen oder sich Essen aufs Zimmer bringen lassen wollen. Ein Putz- und Wäschedienst wird angeboten. Bei Bedarf kann auch ein Pflegedienst bestellt werden. »Natürlich sind alle Wohnungen mit Notschaltern ausgestattet, rund um die Uhr kann gerufen werden.«
Ella Lerner ist gerade im Flur des Jeanette-Wolff-Heimes unterwegs und unterhält sich mit jedem, der vorbeikommt. »Ich habe seit dem Tod meines Mannes vor 20 Jahren alleine gelebt, nun nehme ich jede Gelegenheit wahr, zu reden«, sagt sie. Vor 82 Jahren kam sie in China auf die Welt, da ihre Eltern andere Länder kennenlernen wollten und gerade dort lebten. In China besuchte sie eine katholische Schule und spielte bereits mit dem Gedanken, Nonne zu werden. Darüber muss sie heute noch lachen. Diese Überlegungen waren abgeschlossen, als sie ihren späteren Mann kennenlernte und mit ihm – über den Umweg Israel – nach Berlin ging. An der Sonnenallee in Neukölln hatten sie einen Lebensmittelladen. Jeannette Wolff, die SPD-Politikerin und Namensgeberin des Heimes, kannte sie per-
sönlich, von den Gottesdiensten der Synagoge Fraenkelufer.
49 Stufen hoch musste sie in ihre alte Wilmersdorfer Wohnung hochsteigen. El-
la Lerner erinnert sich an jede Stufe, denn es fiel ihr immer schwerer, sie zu bewältigen. Wenn sie ins Badezimmer ging, hatte sie sicherheitshalber ein Telefon dabei. »Wenn mir etwas passiert wäre, hätte ich wahrscheinlich sonst eine Woche oder so auf dem Boden gelegen, ehe jemand etwas gemerkt hätte.« Doch ins Heim wollte sie nicht ziehen. Deren schlechte Zustände kenne man ja aus dem Fernsehen, dachte sie. Bis ihr eine Freundin vom betreuten Wohnen im Seniorenzentrum erzählte. »Ich wusste gar nicht, dass es so etwas gibt«, räumt sie ein. Nun sei sie »verliebt in meine kleine, renovierte Wohnung. Ich fühle mich vollkommen behütet.« Sie will selbstständig bleiben, selbst kochen, einkaufen und den Haushalt machen. Wenn es ihr mal schlechter gehen sollte, würde sie die Pflegedienste in Anspruch nehmen. »Ich möchte nicht, dass mein Sohn mich mal pflegen muss«, sagt sie. Der durfte ihr nur beim Umzug helfen und kann sie besuchen kommen.
Helga Kaiser kommt gerade von der Gymnastik durch den Flur. »Ihr Sohn hat auf meinem Schoß gesessen«, sagt die frühere Leiterin des Gemeindekindergartens zu Ella Lerner. Lange ist’s her. Nun leben sie beide im Seniorenzentrum. Seit August vergangenen Jahres ist Helga Kaiser hier, »und es geht mir gut«, sagt sie. Eine Nichte, die außerhalb Berlins lebt, hatte sie gebeten, zu ihr zu ziehen. Doch die 84-Jährige lehnte ab. »Ich gehöre zur Berliner Ge-meinde.« Und das bedeutet auch Gemeinschaft. Früher habe sie ihre Wohnung kaum noch verlassen. Ihr Vater ist von den Nazis ermordet worden und es gibt Momente, da habe sie noch heute Angst. Schritt für Schritt gehe es ihr hier nun besser. »Ich weiß, dass immer jemand da ist.« Es falle ihr hier leichter, vor die Tür zu gehen und immerhin, zur Gymnastik schaffe sie es regelmäßig. Wichtig sei es, in einer jüdischen Einrichtung zu wohnen. »Ich brauche eine jüdische Atmosphäre«, meint sie. Und sie freut sich, dass nun mehr Menschen bei ihr klingeln und vorbeikommen und sagen: »Ich bin gerade im Haus und da wollte ich Tante Helga auch mal Hallo sagen.«
Helga Kaiser und Ella Lerner sind zwei Seniorinnen, die sich rechtzeitig für das Betreute Wohnen entschieden haben, meint die Leiterin der Einrichtung, Sigrid Wolff. »Es ist leichter umzuziehen, wenn man noch fit ist und sich schneller wieder einleben kann.« Sie findet es auch für sich selber beruhigend, dass die Jüdische Ge-
meinde zu Berlin nun seit einem Jahr ein derartiges Angebot hat. Denn jeder – auch sie – werde mal alt. »Ich bin alt, aber zu-frieden«, meint Ella Lerner. Trotz ihrer neuen Adresse habe sie sich nicht »vom Leben abgemeldet«. Sogar ihre Telefonnummer konnte sie mitnehmen.