NS-Prozess

Opferrolle

Das Gesicht ist blass, ja fahl. Die Augen hinter einer Brille sind fast immer geschlossen. Ab und zu öffnet sich der Mund, ein leises Stöhnen ist zu vernehmen. Doch Worte kommen nicht über die schmalen Lippen. Es wirkt eher wie ein unkontrolliertes Japsen. John Demjanjuk, ein gebrechlich wirkender alter Mann, der nicht mehr auf den eigenen Beinen stehen kann und deshalb einen Rollstuhl mit Kopfstütze braucht. Ein Greis, sicherlich. Aber ist der 89-Jährige auch ein armer Kerl, der unser Mitleid verdient hat? Soll hier womöglich einer als Opfer inszeniert werden?
Als John Demjanjuk am Montagvormittag in den Saal A 101/1 des Landgerichts München geschoben wird, klicken nicht nur Dutzende Kameras. Es geht auch ein kurzes Raunen durch die Zuschauerreihen. Immer wieder erheben sich die Besucher und Medienvertreter von ihren Sitzen, obwohl ihnen das eigentlich untersagt ist. Jeder will einen kurzen Blick auf den mutmaßlichen NS-Kriegsverbrecher werfen, der im Vernichtungslager Sobibor Beihilfe zum Mord geleistet haben soll. Keinen im aufsteigenden Halbrund des gelb gestrichenen Raumes überrascht das, was er sieht: ein apathisch wirkender Mann mit Basecap und schwarzer Lederjacke. Mehr ist kaum zu erkennen. Hellblaue Kunststoffdecken verhüllen den Körper.

Gedränge Dann, nach dem obligatorischen Blitzlichtgewitter, wird John Demjanjuk ein paar Meter weiter in den Saal geschoben. Links neben ihm nimmt eine Dolmetscherin für Ukrainisch Platz, rechts sitzen seine beiden Verteidiger Ulrich Busch und Günther Maull. Dann erst erklärt der Vorsitzende Richter Ralph Alt die Verhandlung für eröffnet. Es ist womöglich einer der letzten NS-Kriegsverbrecherprozesse. Dementsprechend groß ist der An- drang. Mehr als 200 Journalisten aus aller Welt sind nach München gekommen, um für ihre heimischen Medien zu berichten. Dazu Nebenkläger, vor allem aus den Niederlanden, und viele interessierte Zuschauer. Sie alle wollen dabei sein, wenn der geborene Ukrainer sich vor einem deutschen Gericht verantworten muss. Der große Andrang überfordert die Justiz dann auch ein wenig. Mehr als zwei Stunden dauert das Einlass-Procedere. Stehen, warten, ein Schritt vorwärts, wieder stehen, wieder waten. Wer in den Verhandlungssaal will, wird akribisch kontrolliert. Sogar alle elektronischen Geräte müssen abgegeben werden. So beginnt das Verfahren erst mit gut einer Stunde Verspätung um 11.10 Uhr.
Beihilfe zum Mord in 27.900 Fällen wirft die Staatsanwaltschaft John Demjanjuk vor. Als »Hilfswilliger« habe er dabei geholfen, massenhaft Juden durch Lkw-Abgase zu töten. 27.900 – eine monströse Zahl, die etwas Buchhalterisches hat: Die Ermittler haben die Namen der Menschen zusammengezählt, die zwischen April und Juli 1943 vom niederländischen Westerbork ins polnische Sobibor deportiert wurden und dort wohl auch alle ums Leben kamen. Es sind die Monate, in denen ein »Iwan Demjanjuk« als Wächter tätig war. Das besagt ein SS-Ausweis mit der Nummer 1393. »Abkommandiert am 27.3.43 Sobibor« ist dort handschriftlich vermerkt. Auf dieses Dokument stützt sich die Anklage. Die Verteidigung wiederum bezweifelt die Echtheit des Ausweises. Und: Es habe viele Demjanjuks gegeben.
Der im Rollstuhl mehr liegende als sitzende Mann gleichen Namens wird 1920 in einem kleinen ukrainischen Dorf geboren. 1941 zieht ihn die Rote Armee für den Kampf gegen Hitler ein. Ein Jahr später gerät der junge Mann in deutsche Kriegsgefangenschaft und kommt ins Lager Chelm. Dann wird Demjanjuk laut Ermittler und Ankläger nach Trawniki verlegt, ein Ausbildungslager der SS. Dort lernt man, »Judenlager« zu bewachen. Und Juden zu töten. Das soll der junge Ukrainer dann getan haben, in Sobibor, einem deutschen Vernichtungslager auf polnischem Boden. 250.000 Menschen sind dort ermordet worden, durch Gas oder Erschießen. Eine Todesfabrik, betrieben von 30 SS-Leuten und 120 ausländischen Wachmännern.
Im Prozess soll geklärt werden, ob John Demjanjuk Teil dieses mörderischen Systems war. Ein Handlanger der Nazis? Ein williger Vollstrecker? Ein kleines Rädchen in der Maschinerie des Tötens? Ein letztes Glied in der Befehlskette? Ein Täter, ein Kollaborateur also. Oder doch nur einer, dem nichts anderes übrig blieb als zu morden, um selbst am Leben zu bleiben? Demjanjuks Anwälte wollen offenbar im Prozessverlauf genau dieses Bild von ihrem Mandanten zeichnen.
Einen kleinen Vorgeschmack auf diese Taktik gibt es schon am ersten Verhandlungstag. Keine zehn Minuten ist das Verfahren alt, da stellt Rechtsanwalt Busch einen Befangenheitsantrag gegen das Ge- richt und die Ankläger. Es sei Demjanjuk nicht zuzumuten, sich vor einer Justiz zu verantworten, die deutsche Täter in den zurückliegenden Jahrzehnten laufen ließ. Sei es, weil diese sich auf Befehlsnotstand beriefen, oder sei es, weil die Ermittler keinen ausreichenden Tatverdacht hätten feststellen können. Stattdessen werde nun versucht, einen »Trawniki« zu belangen. »Wie kann es sein, dass die Befehlshaber unschuldig sind, aber der Befehlsempfänger schuldig sein soll?«, ruft Busch und deutet damit an, dass das Münchener Verfahren für ihn ein politisch motiviertes ist.
Doch Demjanjuks Rechtsbeistand geht noch weiter. Er stellt die gefürchteten Trawnikis als Opfer der Deutschen dar. Nur die Beihilfe zum Mord habe sie vor dem eigenen Tod bewahren können. Somit seien die ausländischen Hilfswilligen genauso als Nazihelfer einzustufen wie Juden der Sonderkommandos, die gezwungen wurden, in den Krematorien zu arbeiten. Beide hätten auf Anweisung gehandelt. Also könne ein Trawniki sehr wohl Befehlsnotstand geltend machen.
Ein gewagter Vergleich, für viele im Saal ein perfider. Buschs Ausführungen werden denn auch von einem unwilligen Murmeln begleitet. Es ist dann an dem Strafprozessrechtler und Anwalt der Nebenkläger, Cornelius Nestler, den als empörend empfundenen Worten seines Kollegen etwas ent- gegen zu setzen. Anders als Trawnikis sei es Juden nicht vergönnt gewesen, sich ausreichend zu ernähren oder gar Urlaub zu machen. Manch ausländischem Nazihelfer sei es zudem gelungen, sich auf Kosten der Juden zu bereichern. Und: »Die Trawniki mordeten, die Juden nicht.«
War John Demjanjuk einer der Mörder? Der Angeklagte schweigt, so wie er es seit seiner Auslieferung durch die USA im Mai tut. Dass der 89-Jährige die ihm zur Last gelegten Verbrechen bestreitet, ist allerdings bekannt. Er sei unschuldig, hat er bereits vor Jahren in Israel beteuert. Dort stand Demjanjuk schon einmal vor Gericht. 1986 war er angeklagt, als Iwan der Schreckliche tausendfach getötet zu haben, im KZ Treblinka. Zwei Jahre später verhängte man die Todesstrafe gegen ihn. Doch 1993 hob der Oberste Gerichtshof das Urteil auf. Es bestanden erhebliche Zweifel daran, ob Demjanjuk tatsächlich Iwan der Schreckliche war. Wieder auf freiem Fuß, reiste er erneut in die USA ein und kehrte zu seiner Familie zurück. Sie ist von der Unschuld des Ehemanns, des Vaters und des Großvaters bis heute überzeugt.

indizien Das sehen die deutschen Ermitt-
ler und Ankläger anders. Sie sind sicher, dass Demjanjuk ein Kriegsverbrecher ist, ein Täter. Aber sie wissen auch, dass es ein langwieriger Indizienprozess wird. 35 Verhandlungstage sind vorerst bis Mai 2010 angesetzt. An denen wird aller Voraussicht nach John Demjanjuk persönlich erscheinen müssen. Denn so gebrechlich er wirken mag, die medizinischen Sachverständigen halten ihn trotz Herzbeschwerden, Gicht und Bluthochdruck für eingeschränkt verhandlungsfähig. Zweimal 90 Minuten am Tag seien zumutbar. Er könne dem Prozessverlauf sehr wohl folgen. Eine Schwäche der geistigen Leistung sei nicht feststellbar.
Auch wenn am Mittwoch der Prozess wegen Erkrankung des Angeklagten vorübergehend ausgesetzt wurde, wird noch häufiger zu erleben sein, wie Pfleger John Demjanjuk in den Gerichtssaal schieben, medizinisch bestens versorgt. Auf ein solches Privileg konnten die Häftlinge in Sobibor nicht hoffen. Es war so unvorstellbar wie das eigene Überleben.

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