Bewußtsein

Nah am Herzen

von Rabbiner Joel Berger

Am Ende des jüdischen Jahres finden wir in der Tora und Liturgie ermahnende Hinweise, die uns auf die bevorstehende Zeit der Erhabenen Tage von Rosch Haschana und Jom Kippur vorbereiten wollen. Sie bringen uns die traditionelle Verpflichtung zur Selbstprüfung und Umkehr, die Te-schuwa, in Erinnerung. Eines der wichtigsten Elemente jener von uns erwarteten Reue ist die Bereitschaft, Gott, den Mitmenschen und sich selbst vorurteilsfrei zu begegnen. Wohlwissend, daß es Vorurteile geben kann, die durch ihre langen Schatten Beziehungen verdunkeln können.
Am Anfang unserer Parascha lesen wir: »Denn diese Tora, die ich dir heute nahelege, ist dir nicht zu schwer und liegt dir auch nicht fern. Es ist nicht im Himmel, daß du sagen müßtest: Wer wollte für uns in den Himmel emporsteigen, um sie uns zu holen, daß wir es hören und tun? … Sondern diese Mizwa ist ganz nahe bei dir, in deinem Munde und in deinem Herzen, so daß du dich danach richten kannst.« (5. Buch Moses 30, 11-14)
Viele Toragelehrte wollten verstehen, um welches Gebot der Tora es sich hier handeln könnte, das so leicht und natürlich nahe am Herzen lag. Der rationell denkende Maimonides meinte, daß hier von der Teschuwa, der reuevollen Rückkehr zu Gott, die Rede sei. Diese zu erfüllen, liege in unserer Nähe und unserer Reichweite.
Sforno, ein Meister der Kabbalah aus Italien, ergänzt: Die Teschuwa zu machen, ist nicht so schwer, daß man dazu die Hilfe der Propheten benötigen würde. Das Gefühl der Reue kann niemandem so fern sein, daß man deshalb die Hilfe von weisen Männern brauchte, um zu verstehen, wie man sein Herz zur Rückkehr bringen kann. Jeder Mensch hat Sünden, die er bereuen kann. Sforno fügt zum Schluß hinzu, daß im Exil dieses Gebot ganz besonders aktuell sei.
Die Gebote der Tora sind sehr klar und zeitlos. Deswegen kann sich niemand von uns in Ausreden flüchten: Würde ich in einer anderen Zeit leben, dann wäre, unter anderen Zeitgenossen, auch die Rückkehr eine leichte Aufgabe. Jedoch hier und heute, in der Welt und in der Zeit in der wir keine großen Gelehrten oder Propheten als Vorbilder haben, sei es viel zu schwer, sie zu erfüllen. Aber sogar in solchen Zeiten kann man diese Pflicht erfüllen, denn es geht vor allem darum, zu sich selbst zu finden. In einer kleinen chassidischen Geschichte, in der Bearbeitung von Martin Buber, meditiert ein Chassid, Sussja, wie folgt: Beim Gericht werde ich nicht darüber Rechenschaft ablegen müssen, warum ich im Leben nicht wie Moses oder wie die Propheten sein konnte. Sondern warum ich nicht der Sussja war? Der Sinn der kommenden Feiertage ist es, auch auf diese Frage aufrichtig zu antworten. Was sind wir. Wie leben wir? Nehmen wir die einzigartige Aufgabe, mit der wir in die Welt gekommen sind und die nur wir alleine erfüllen können, ernsthaft genug wahr?
Die zweite Hälfte der Parascha beginnt mit dem Wort Wajelech: »Und er ging fort.« Das bezieht sich auf Moses, der sein Volk im Alter von 120 Jahren verließ. Dieses Lebensalter des Menschen gilt im Judentum als ein Ideal. Der Ewige hat bereits in der Erzählung über die Sintflut festgelegt: »Mein Geist soll nicht immerdar im Menschen walten, denn auch der Mensch ist Fleisch. Ich will ihm als Lebenszeit geben 120 Jahre.« (1. Buch Moses 6,3). Moses mußte jedoch noch viele Aufgaben erfüllen: Er erwählte seinen Nachfolger, Jehoschua, schloß die Tora ab und übergab sie den Leviten. Er ordnete an, daß die Tora in regelmäßigen Abständen dem Volke vorgetragen werden sollte: Zunächst in jedem siebenten Jahr. Später sahen die Weisen ein, daß dies zu wenig sei, um vom Volk verinnerlicht werden zu können. Im heutigen Judentum wird die Tora vier Mal wöchentlich in den Synagogen gelesen. Es ist eine sehr alte Tradition, kurze Abschnitte montags und donnerstags zu lesen. Sie entstand wegen jener Geschäftsleute, die einst aus ihren Dörfern zu den städtischen Märkten kamen. Am Schabbatvormittag wird der ganze Wochenabschnitt vorgelesen. Am Schabbatnachmittag lesen wir bereits einen Abschnitt der kommenden Woche. Unsere Rabbiner haben gelehrt, daß es im Studium der Schriften keine längere Unterbrechung geben sollte.
Alles, was Moses vor seinem Tod beschäftigt, ist das Wohl des Volkes. Es sollte auch nach seinem Tode auf dem Pfad der Tora wandeln. Moses bekräftigt noch einmal den Bund zwischen dem Ewigen und dem Volk Israel: »… mit euch, die ihr heute hier seid und mit uns vor dem Ewigen, unserm Gott steht, wie auch mit denen, die heute nicht mit uns sind.« (5. Buch Moses, 29,14). Dieser Bund bezieht auch alle kommenden Generationen ein. Gleichzeitig hebt die Parascha die Verantwortung und das Pflichtbewußtsein eines jeden Einzelnen hervor. Daher lehrt uns die Tora: »Laßt niemand sprechen: Mir wird es wohlgehen, auch wenn ich wandle nach meinem verstockten Herzen ... Einem solchen Mann wird der Ewige nicht gnädig sein, sondern sein Zorn und Eifer wird entbrennen gegen ihn ... « ( 5. Buch Moses 29, 18-19). Ein Grundstein des Glaubens wird hier deutlich: Der Übeltäter kann sich nicht hinter den Unschuldigen verstecken. Er muß die Folgen seiner eigenen Verfehlungen in seinem Leben tragen.
Dieser Abschnitt wiederholt auch das Prinzip des menschlichen Handelns nach dem eigenem freien Willen: »Ich nehme Himmel und Erde heute über euch zu Zeugen: Ich habe euch Leben und Tod, Segen und Fluch vorgelegt, damit du das Leben erwählst und am Leben bleibst, du und deine Nachkommen.« (30,19). Nur durch die Wahrnehmung und Verinnerlichung der freien Wahl zwischen »Gut und Böse« erweisen wir uns der Schöpfung Gottes würdig und fähig zur Verantwortung.

5. Buch Moses 29,9 - 31,30

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