Unterbrechung

Moment mal!

von Eliezer Segal

Schon öfter haben Leute – und es war nicht immer als Kompliment gemeint – Bemerkungen darüber gemacht, wie gekonnt ich mit der Faust auf Tisch- und Pultplatten haue. Dieses ungewöhnliche Talent ist kein Relikt meiner Kindheit im Kalten Krieg, sondern Requisit meiner Stellung als Gabbai der Synagoge. Vor allem in solchen Momenten des Gottesdienstes, wo man nicht sprechen darf, kann ein volltönender Schlag auf das Pult dazu dienen, die Aufmerksamkeit der Gemeinde auf wichtige Angelegenheiten zu lenken. Das kann von Bedeutung sein, wenn es etwa um jahreszeitlich bedingte Ergänzungen zur Liturgie geht. Oder wenn der Geräuschpegel anfängt, unerträglich zu werden oder der Rabbiner gleich eine Erklä-
rung abgeben wird.
Heutzutage sollen solche Unterbrechungen des Gottesdiensts in der Hauptsache der Autorität der Gemeinde Nachdruck verschaffen. Doch während eines großen Teils unserer Geschichte kam es genauso oft vor, daß einzelne Gemeindemitglieder auf die Tischplatten klopften, um ihrer Beschwerde gegen Gemeindeführer öffentlich Ausdruck zu verleihen. Das Recht eines jeden, der sich ungerecht behandelt fühlte, den Gottesdienst zu unterbrechen, um seinen Fall darzulegen, wurde sowohl in europäischen als auch in nahöstlichen jüdischen Gemeinden geachtet. Es gibt Gründe für die Vermutung, daß seine Ursprünge in das Land Israel in talmudischer Zeit zurückreichen. In islamischen Ländern scheint das Recht, den Gottesdienst zu unterbrechen, auf der Rechts-
vorstellung zu gründen, daß die Gemeinde als Ganzes, versammelt in der Synagoge, prinzipiell und in Übereinstimmung mit der biblischen Vorstellung: »die Gemeinde soll ... ein Urteil fällen« (4. Buch Moses 35,24) das höchste Gericht war. Seinen Fall vor die Gemeinde zu bringen war daher das Gleiche, als würde man vor dem höchsten Gericht Berufung einlegen.
In Dokumenten aus der Kairoer Geniza wird diese Praxis als »die Juden zur Hilfe rufen« bezeichnet. Die richtige Zeit für eine solche Anrufung war kurz vor der Toralesung, wenn die Schriftrolle auf ihrem Tisch lag und der Kläger es in der Hand hatte, die Lesung so lange zu verzögern, bis sein Fall angehört wurde. Ein Autor spricht sogar von seiner Absicht, die Bundeslade zu schließen, bis er die Genugtuung erhalte, seinem Gegner gegenüberzutreten. In den erhalten gebliebenen Aufzeichnungen waren die Kläger oft Frauen oder Mädchen, obwohl sie wahrscheinlich von Männern vertreten wurden. Eine rührende Petition wurde in Namen zweier Waisenmädchen eingereicht, deren ältere Geschwister sie aus dem Haus getrieben hatten. Die Sache wurde innerhalb eines Tages erledigt.
Ein praktisch identisches Verfahren –wahlweise unter der Bezeichnung »Unterbrechung des Gottesdienstes«, »Schließung der Synagoge« oder sogar »Aufhebung des täglichen Opfers« bekannt – war seit den frühesten Tagen ihrer aufgezeichneten Geschichte fester Bestandteil der Gebräuche in den deutschen und französischen Gemeinden. Das Privileg wird in einem der Erlasse, die dem Rabbenu Gershom aus Mayence, dem gefeierten »Licht des Exils«, zugeschrieben werden, als gegeben vorausgesetzt. In dem Dekret werden dem Gebrauch des Privilegs einige praktische Einschränkungen auferlegt. Laut dem Erlaß wurde dem Kläger zunächst Gelegenheit gegeben, seine Beschwerde am Ende des Gottesdienstes (oder, gemäß einiger Interpretationen, während des gemächlicheren Abendgottesdiensts) in der Synagoge vorzubringen. Erst wenn er nach dreimaliger Wiederholung dieses Procederes keine Genugtuung erfuhr, durfte er jetzt das gemeinsame Gebet unterbrechen. Ein Jahrhundert später kam zu dem älteren Erlaß eine Ausnahmeregelung hinzu, die von Rabbi Jacob Tam in einem neuen Statut verfügt wurde und auf ein immer wieder auftauchendes Problem reagierte: Wenn es sich um Klagen vor nichtjüdischen Behörden handelte, die damit drohten, die Sache ganz aus der Jurisdiktion des jüdischen Gerichts zu nehmen, durften die Kläger unmittelbar »den Gottesdienst unterbrechen«, ohne die vorherge-
henden Abläufe einzuhalten.
In Fürth war jeder berechtigt, gegen Übergriffe seitens der Gemeinde zu protestieren, indem er während des Gottesdienstes aufstand und ausrief: »Ich klage!« Mehrere liturgische Kompendia sprechen von der Unterbrechung, die der Beschwörung von »Barchu« vorangeht, wie von einem routinemäßigen Bestandteil des Morgengebets.
Bei diesen Unterbrechungen konnte es um sehr ernste Dinge gehen. Eine Klage in Köln ist ein extremes Beispiel: Sie zog sich so lange hin, daß es unmöglich war, an jenem Sabbat aus der Tora zu lesen. Die Gemeinde sah sich genötigt, die Lesung bis zur nächsten Woche zu verschieben. Die Liste der Fälle, die zu einer Aussetzung der Gebete berechtigten, ist lang und mannigfaltig. Die Beispiele reichen von armen Mietern, die ihre hartherzigen, mit der Zwangsräumung drohenden Vermieter beschämen wollten, bis zur Empörung über den Versuch einer Gemeinde, eine Komiteesitzung abzusagen. So überrascht es nicht, daß diese demokratische Institution durch übermäßige und unberechtigte Anwendung auch allzu leicht mißbraucht werden konnte. Eine Gemeindeverordnung der Jüdischen Gemeinde von Candia in Kreta aus dem 13. Jahrhundert versucht diesem Dilemma zu begegnen, indem sie verfügt, daß alle öffentlichen Beschwerden vorher von den Gemeindeführern genehmigt werden müssen – eine Änderung, die in vielen Fällen dem ur-
sprünglichen Zweck der Institution sicherlich zuwiderlief. Die Gemeinden des Rheinlands beschränkten in einem ähnlichen Versuch, dem Mißbrauch zu begegnen, die Gebete, die man unterbrechen durfte, auf die weniger wichtigen. Dadurch wurde die Position des Klägers gegenüber der Gemeinde geschwächt. Im mittelalterlichen Buch der Frommen wird etwas von der Ambivalenz greifbar, die in Bezug auf die Unterbrechung des Gottesdiensts weit verbreitet gewesen sein muß. Ein Kapitel berichtet von einem mächtigen Gemeindeführer, dem trotz eines beeindruckenden Registers guter Taten am Ende seines irdischen Lebens die göttliche Gnade verweigert wird, weil er Anlaß von mehreren Synagogenbeschwerden gewesen war. »Denn du«, rügt Gott ihn, »bist die Ursache dafür, daß es für mich bei den Gebeten und Lesungen aus der Tora Verzögerungen gab. Deshalb mußt du deine Heimsuchung ertragen.«
Auch andere Kapitel im Buch der Frommen sind über die Unterbrechungen nichts weniger als begeistert. Der Verfasser rät den Gläubigen, lieber zu Hause zu bleiben und zu lernen oder sich einen anderen Minjan zu suchen, statt einem Gottesdienst beizuwohnen, der durch die Ankündigung einer Beschwerde in die Länge gezogen wird. Einen vergleichbaren Widerwillen äußerte in Polen im 17./18. Jahrhundert Rabbi Ephraim Luntshitz, der die Ansicht vertrat, daß die Praxis Gott beleidige und die jüdische Gemeinschaft in der Öffentlichkeit lächerlich mache.
Ich erwarte nicht, daß unsere lokalen Synagogen Neigung zeigen werden, dieses ehrwürdige Relikt der populistischen Demokratie wieder einzuführen; nicht nur weil unsere Gläubigen mit ihren Gemeindeführern so überaus zufrieden sind, sondern hauptsächlich aus Angst, daß eine ungebührliche Verlängerung des Gottesdienstes die Gläubigen abschrecken wird.
Recht überlegt, könnte genau der gegenteilige Effekt eintreten. Ein Aufmarsch unzufriedener Gemeindemitglieder, die ihre Beschwerden gegeneinander und gegen ihre Führer ventilieren, ist vielleicht genau das, was wir brauchen, um unsere Synagogenbänke wieder zu füllen und gegen die Fernsehtalkshows zu bestehen.

Der Autor ist Dozent an der Universität von Calgary/Kanada.

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