Alexander Bederov

»Man muss viel Arbeit reinstecken«

Täglich zieht es uns, meine Frau Lea Larysa und mich, zu unserer langjährigen ehrenamtlichen Tätigkeit für die jüdische Gemeinde in Neuss. Wir machen diese Arbeit seit 1998. Zwei Jahre vorher kamen wir mit unseren Kindern und Enkeln nach Deutschland. Vor einigen Monaten hatten wir Goldene Hochzeit. War das ein schöner Tag! Im Düsseldorfer Gemeindehaus war alles so feierlich und schön: viele Blumen und herzliche Worte. Die stellvertretende Bürgermeisterin unserer Stadt hat uns eine Urkunde überreicht. Sie sagte, dass sie kein zweites Paar kennt, das so viel für die jüdische Gemeinschaft in Neuss tut.
Solche Worte motivieren zum Weitermachen. Gerade in den kommenden Monaten ist viel Einsatz gefragt. Denn nach jahrelangem Suchen gibt es nun endlich Räumlichkeiten, in denen eine Art Zweigstelle der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf, zu der wir Neusser gehören, Heimat finden kann. Am Montag war ich in dem neuen Gebäude und habe mir noch mal genau angesehen, was alles getan werden muss. Früher war dort ein katholischer Kindergarten, nun soll das Haus für uns umgebaut werden. Keine ganz einfache Sache, aber durchaus machbar. Man muss viel Arbeit reinstecken.
Die Jüdische Gemeinde Düsseldorf hat das Gebäude gekauft – mit finanzieller Unterstützung der Stadt Neuss. Viele Jahre hat die Suche gedauert. Vor einiger Zeit wurde ein Komitee für die Wiederbelebung der Jüdischen Gemeinde in Neuss gegründet, und ich wurde zum Ehrenvorsitzenden gewählt. Bislang nutzen wir andere Räume in der Stadt für unsere Gemeindeveranstaltungen, zum Beispiel für die große Kabbalat-Schabbat-Feier, die gemeinsam mit der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit organisiert wird. Auch dieses Jahr erwarten wir wieder mehr als 120 Besucher. Da ist noch einiges vorzubereiten in diesen Tagen. Am Dienstag habe ich mich mit dem Chorleiter getroffen, um zu klären, welche Stücke genau gesungen werden sollen.
Am Mittwoch habe ich Einladungen geschrieben und verschickt, Briefe an die Ehrengäste getippt. Die Plakate müssen noch ausgehängt werden. Und dieser Tage muss auch Channuka vorbereitet werden. Im vergangenen Jahr haben wir zum ersten Mal nach dem Krieg im Stadtzentrum gefeiert. Das hat mich sehr gefreut und bewegt, auch weil ich die Feier gemeinsam mit dem Rabbiner organisiert hatte.
Geboren bin ich in Charkow, einer Großstadt in der Ukraine. Im Juni 1941 kam der Zweite Weltkrieg zu uns. Damals war ich sechs. Meine Mutter und ich flohen in einem Viehwagen – ohne Nahrung, ohne Wasser, ohne Toilette. Dreiunddreißig Tage dauerte die Fahrt nach Tscheljabinsk im Ural. Dort wohnten wir dann bei meinem Onkel. Auch meine Frau war mit ihrer Mutter dorthin geflohen, beide kamen ebenfalls bei einem Onkel unter. Wir wohnten im selben Haus und sahen uns oft. Nach dem Krieg trennten sich unsere Wege. Meine Mutter und ich kehrten 1949 nach Charkow zurück. Als ich einige Jahre später meine Frau kennenlernte, merkten wir schnell, dass wir in Tscheljabinsk im selben Haus gewohnt hatten. Ich denke, so etwas ist sehr selten. Und jetzt haben wir unsere Goldene Hochzeit gefeiert.
Von Beruf bin ich Flugzeugingenieur. Nach dem Studium habe ich im Konstruktionsbüro Topolev in Moskau gearbeitet und dann für 42 Jahre in einem Flugzeugwerk in Charkow. Zuerst als Konstrukteur und dann als stellvertretender Leiter des »Konstruktionsbüros für Mechanisierung und Automatisierung des Produktionsablaufes«. Nach vielen Jahren Arbeit von früh morgens bis spät abends konnte ich hier in Deutschland nicht plötzlich die Hände in den Schoß legen, sondern musste etwas machen. Als 1998 eine Gesellschaft für russischsprachige Juden in Nordrhein-Westfalen gegründet wurde, ließ ich mich in den Vorstand wählen. Gleichzeitig haben wir eine Ortsgruppe in Neuss aufgebaut.
Die meiste Zeit beschäftige ich mich momentan aber mit der jüdisch-christlichen Gesellschaft und mit unserem künftigen Gemeindezentrum. Am Mittwoch hatte ich ein Gespräch mit der Architektin, die den Umbau betreut. Wir haben uns ausführlich unterhalten, Ideen und Vorstellungen ausgetauscht. Am Donnerstag habe ich mich für ein Treffen mit dem stellvertretenden Bürgermeister von Neuss vorbereitet, der auch im Vorstand der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit ist. Wir müssen das kommende Jahr ins Auge fassen: die Aufgaben besprechen, Termine machen, über die Zukunft nachdenken. Zum Beispiel planen wir gemeinsam mit dem Kulturamt und dem Stadtarchiv weitere Stolpersteine.
Am Wochenende werde ich ein wenig Büroarbeit machen. Regelmäßig gucke ich nach E-Mails, es kommen viele Anmeldungen für die große Kabbalat-Schabbat-Feier mit Juden und Christen. Für die rund 500 Gemeindemitglieder, die zum Kreis Neuss gehören, organisieren wir unter der Leitung des Düsseldorfer Rabbiners auch ab und zu Schabbat-Feiern. Das wird in Zukunft gewiss regelmäßig und noch öfter stattfinden können, wenn wir als eine Art Filialgemeinde bald unsere eigenen Räume haben.
Und ich werde am Wochenende noch einmal in den ehemaligen Kindergarten gehen. Ich möchte dort in aller Ruhe eine Bestandsaufnahme der Einrichtung machen: Listen schreiben, was in gutem Zustand ist, was man behalten kann und was weg muss. Wenn ich so durch die neuen Räume gehe, denke ich immer wieder an die lange Zeit des Wartens und Suchens. Viele Jahre. Jetzt ist die Hauptaufgabe, dass man dieses Gebäude in Ordnung bringt – und mit Leben füllt. Viele Menschen wenden sich an mich und meine Frau, wenn sie Hilfe suchen oder Probleme haben. Dann sind wir gerne für sie da – mit Rat und Tat, wenn es möglich ist. Manchmal höre ich gute Worte der Dankbarkeit. Dann merke ich, dass ich mich nicht unnötig bemühe. Jetzt, das weiß ich gut, interessieren sich immer mehr Deutsche für die jüdische Kultur. Ich freue mich, dass es heute bessere Bedingungen gibt. Wir schreiben neue Seiten in der jüdischen Geschichte von Neuss.
Alle Religionen wachsen aus einer Wurzel. Nur sitzen wir an verschiedenen Zweigen in diesem Baum. Aber wir können uns immer unter diesem Baum versammeln. So verstehe ich das. Ein Beispiel dafür ist für mich, dass Schüler aus Neuss und Mitglieder der Gemeinde gemeinsam nun schon zweimal den jüdischen Friedhof verschönert haben. Ich freue mich, dass diese gottgefällige Aktion, die ich angeregt und organisiert habe, Jung und Alt, Juden und Christen in gemeinsamer Anstrengung vereinte.
Wir schließen uns nicht ein, und wir stellen uns auch nicht zur Schau. Wir sind offen für Kontakte. Mein Motto ist: Wir wollen und können nicht nebeneinander, sondern miteinander leben. Deswegen organisieren wir viele Veranstaltungen in der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit. Von Hillel, einem Rabbiner der Antike, wird oft ein Ausspruch zitiert: »Wenn nicht ich, wer dann? Wenn nicht jetzt, wann dann?« Damit bin ich sehr einverstanden.

Aufgezeichnet von Annette Kanis

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