von Christine Schmitt
Ein Zug, der durch eine Miniaturlandschaft schnurrt? Fehlanzeige. Eisenbahn-Modelle in einer Vitrine? Rabbiner Walter Rothschild winkt ab. »Ich ärgere mich immer, wenn man mich fragt, ob ich eine Modell-Lok durch meine Wohnung fahren lasse.« Rothschild ist Eisenbahn-Freak, »schon immer«, aber in seinen eigenen vier Wänden wird man weder Lokomotiven noch Schienen finden.
»Vorsicht, bissiger Rabbiner«, steht auf seiner Tür zum Arbeitszimmer, in dem allein die Regale von zwei Wandseiten mit Büchern, Ordnern und Zeitschriften über Eisenbahnen gefüllt sind. Von Modelleisenbahnen hält er nicht allzu viel, er interessiert sich für die Geschichte, die Streckenführung und natürlich für die Züge. Einer seiner Schwerpunkte ist die Eisenbahn in Palästina von 1945 bis 1948. Langweilig für Nicht-Eisenbahnbegeisterte? Mitnichten. »Ich habe festgestellt, dass in den Ge-
schichtsbüchern etliches falsch dargestellt wird«, sagt Rothschild. Beispielsweise halte sich die hartnäckige Behauptung, dass die Eisenbahn in dieser Region bis zur Staatsgründung Israels eine friedliche Existenz hatte und nur durch den neuen Staat alles anders wurde. In Wirklichkeit sei aber die Strecke durch den Libanon bereits 1946 – zwei Jahre vor Gründung Israels – eingestellt worden. Walter Rothschild hat so viele Daten sammeln und dokumentieren können, dass er jetzt in London am Kings College promoviert hat. Das Thema seiner Doktorarbeit: »Arthur Kirby and the last Years of Palestine Railways 1945–48«. Kirby sollte als Geschäftsführer Ordnung in das undurchsichtige Schienennetz bringen, denn für England sei der Landweg damals aus strategischen Gründen immens wichtig gewesen.
Seine Leidenschaft für Eisenbahnen hat Rothschild von seinem Vater geerbt, der als Kind eine Märklin-Eisenbahn besessen hatte. Als 16-Jähriger emigrierte er während der Nazi-Zeit mit einem Kindertransport von Deutschland nach England. Noch heute mag er es, den Schwarzwald oder die Alpen nachzubauen und Züge durch diverse Tunnel fahren zu lassen. »Ich wuchs mit der Kenntnis auf, dass Eisenbahnen eine wichtige Sache sind«, sagt der Sohn. Anscheinend waren Loks und Schienen in der Fa-
milie so bedeutsam, dass seine Großmutter ihn auf ein Inserat aufmerksam machte. Sie hatte entdeckt, dass die Deutsche Bun-
desbahn Praktikanten suchte. Mit 19 Jahren ging Rothschild nach Hamburg und lernte dort am Stellwerk, am Rangierbahnhof, im Bahnbetriebswerk und bei der Wa-
genausbesserung. »Alles spannende Sa-
chen. Aber trotzdem fühlte ich mich einsam und hatte Heimweh«, sagt der 53-Jährige. Zurück in England begann er ein Theologie-Studium. Anschließend zog es ihn nach Israel, wo er in einer Jeschiwa lernte. Die ersten Gebäude, die er besichtigte, waren die Bahnhöfe. Nach dem Unterricht durchforstete er die Bibliotheken nach entsprechenden Unterlagen. »Ich habe Karten gefunden von Strecken, die nie gebaut wurden.« Die Zugstrecken ging er per Fuß ab, nur seinen Notizblock und einen Fotoapparat hatte er dabei. Ein Tourist ganz allein an den Schienen – für die Polizei suspekt ge-
nug, ihn für kurze Zeit festzunehmen.
Das ist lange her – seine Begeisterung für die Bahn (hebr.: Rakevet) ist geblieben. »Das ist die 79. Ausgabe von ›HaRakevet‹«, sagt Rothschild stolz und zieht sie aus einem Stapel in seinem Arbeitszimmer. Vor zwanzig Jahren begann er, sein Wissen aufzuschreiben, diese Artikel dann zu fotokopieren und anschließend zu versenden. Das war die Geburtsstunde von »HaRakevet«, einer Zeitschrift für Eisenbahnfans. Untertitel: »Railways of the Middle East«. Trotz des Minusgeschäftes will der Geschäftsführer und Chefredakteur in Personalunion an der Fachzeitschrift (harakevet.com) festhalten. Vierteljährlich erscheint sie. Immerhin, was zunächst nur für wenige Interessierte gedacht war, hat mittlerweile einen größeren Leserkreis gefunden, ist sogar in Bibliotheken erhältlich – und kann vielleicht auch mal als Grundlage für weitere Forschungen dienen, hofft er. Rothschild überlegt, nun seine Doktorarbeit als Son-
derausgabe herauszubringen.
Da Walter Rothschild als Rabbiner Gemeinden von Kiel bis Freiburg betreut, ist er viel auf dem Schienenweg unterwegs. Attraktive Flugverbindungen können ihn kaum beeindrucken, er nimmt lieber den Zug. Ein eigenes Auto lehnt er ab, braucht er nicht, meint der Bahnfan. »Aber manchmal bin ich schon erschöpft, wenn ich nach sieben Stunden im Zug wieder zu Hause ankomme.« Zur Erholung setzt sich der Vater dreier Kinder dann an seinen Schreibtisch und denkt über einen weiteren Artikel für »HaRakevet« nach.