Kaffee

Kleines braunes Wunder

von Sabine Brandes

Ein echtes Wunder ist ganz einfach. Wer dabei an Jerusalem und die Klagemauer oder andere heilige Gemäuer denkt, liegt ganz falsch. Es geht um die kleinen, die feinen, die kaum jemand bemerkt. Sie geschehen in Israel jeden Tag an jedem erdenklichen Ort. Im Café an der Ecke, im Büro oder im gemütlichen Lehnsessel zu Hause. Sie bestellen oder machen einfach selbst einen »Nes« – und schon ist es da. Ein Mirakel in Kaffeeform. Das hebräische Wort »Nes« bedeutet Wunder und steht als gängige Abkürzung für löslichen Kaffee. Als Aba Prometchenkow und Mark Moschewitz 1956 die erste Fabrik für »Neskaffee Elite« gründeten, dachten sie tatsächlich, sie hätten etwas Magisches erschaffen.
Wer Israel aus den 70ern oder 80ern kennt, wird wissen, wovon die Rede ist. Die Blechdose mit dem roten Logo auf Kaffeebohnenhintergrund war allgegenwärtig: Riesenpyramiden in Supermärkten lockten dazu, nicht nur zwei, sondern gleich drei Dosen in den Einkaufskorb zu legen, kein Mensch, der nicht einen Extravorrat in der Küche hatte, ja sogar in den Koffern der reisenden Israelis durfte die blecherne Wohlfühlgarantie nicht fehlen. Elite gibt an, dass sogar heute noch etwa zehn Prozent der Bevölkerung keine Reise ohne ihren Lieblingskaffee antreten.
Neskaffee Elite war Israel – und Israel war Neskaffee Elite. Wobei die Bezeichnung des feinen Pulvers gar nicht eindeutig ist. Kommt »Nes« tatsächlich vom Wort »Wunder« oder ist es eher eine Anlehnung an den weltweit bekannten Nescafé vom Großkonzern Nestlé? Vielleicht ist es schlicht eine Vereinfachung des Adjektivs »löslich«, auf Hebräisch »namess«, wovon die meisten Einheimischen ausgehen. Egal, verstanden wurde die Bezeichnung auch ohne lästige Fragen zur Etymologie.
Wer vor 20 oder 30 Jahren einen Kaffee bestellte, der bekam »Nes« auf den Tisch und fertig. Wenn man Glück hatte, fragte die Bedienung, ob man Milch- oder Wasserbasis möchte. Doch meist wurde auch das vorausgesetzt. Im Israel der 80er galt heiße Milch – wohlgemerkt schlicht heiß, nicht aufgeschäumt, davon hatte man noch nie etwas gehört – mit einem dicken Löffel Neskaffee als Stoff für die ultimative Glückseligkeit.
1993 erzählte Moschewitz zum ersten Mal, wie das Kaffeewunder seinen Anfang gefunden hatte: »Wir verkauften in den 50er- Jahren viel Kakaopulver nach Finnland. Ich war oft da und probierte auf einer meiner Reisen diesen löslichen Kaffee, er kam aus Deutschland und der Schweiz. Ich fand, dass es eine gute Idee sei, in Israel, wo der Kaffee gänzlich unbekannt war, eine Fabrik zu bauen.« Einfach aber sei das Unterfangen nicht gewesen, denn das Wissen, so der Firmengründer, wurde besser gehütet als das Atomgeheimnis. Nur Nestlé und Foods General kannten es. Dann fanden sie »einen Juden in Amerika mit Rezept«, und er wurde Partner. »Als wir das Neskaffee-Wissen hatten«, so Moschewitz, »war klar, dass es ein Schlager wird.« Es wurde.
Ein anderes Kulturgetränk, das lange vor dem Nes im Judenstaat ankam, war der türkische Kaffee, wegen des dicken Kaffeesatzes am Tassenboden schlicht Botz, Matsch, genannt. Schon damals und noch heute wird er oft mit »Hell« getrunken. Für manchen schmeckt er damit ge-
nauso wie das englische Wort assoziiert. Hell ist Kardamon. »Kopfschmerzgarantie mitgeliefert«, sagen nicht wenige. Die originale Variante brühen die Araber und Beduinen im sogenannten Finjan, einer metallenen Kaffeekanne mit langem Griff zum Eingießen.
Der »Kaffee turki« wurde schon in den 30er- und 40er-Jahren in den legendären Kaffeehäusern Tel Avivs und Jerusalems gebrüht. Im »Kassit« an der Dizengoffstraße etwa, wo die Luft geschwängert war von Rauch und den heimwehvollen Erzählungen der europäischen Immigranten, war Kaffee Hauptnahrungsmittel. Kein Literat, Journalist oder Schauspieler, der vor der zehnten Tasse nach Hause ging. Nach einem gehörigen Pegel Koffein im Blut ließ es sich offenbar endlos debattieren. Mit der Tasse Kaffee auf dem Tisch wurde geredet, gelacht und geliebt.
Geredet wird auch heute noch in den Cafés der palmenbesetzten Straßen. Doch die Zeit ist knapp, und vorbei sind die Zeiten des Kassit, Atara oder der Kapulsky-Kette, deren Lokale in den 80ern überall zu finden waren und zum Kaffee den
süßesten Schoko- und dicksten Käsekuchen der Welt servierten.
Dem Zeitgeist angepasst sehen die Ca-
fés heute eher aus wie Bars mit kühlem Lack und blitzendem Chrom. Sie heißen Aroma, Café-Café, Cup O’Joe oder Espresso-Bar. In der Mittagspause trinkt man einen Cappuccino, am Abend »nimmt« man den Espresso. Für ganz Schnelllebige bietet heute fast jedes Café das heiße Getränk zum Mitnehmen, international gespro-
chen: »To go«. Die Variante des gepflegten Plauschs bei einem Kaffee im neuen Jahrtausend zeigt dieses Bild: »To go« in der Hand, Handy am Ohr.
Mit der Zeit kamen viele Varianten ins Land. Espresso in den 90ern. Es folgten sämtliche Geschmacksrichtungen von Cappuccino über Latte bis zu Macchiato und Frappiato. Die Israelis, als Wortschöpfer berühmt, wollen aber nicht erst Italienisch lernen, um einen Kaffee zu bestellen. Darum nennen sie die meisten Cappuccino-Variationen einfach Hafouch, »umgedreht«, weil nicht Kaffee, sondern Milch Hauptbestandteil ist. Möglich ist heute alles, von Vanillearoma bis zum Beerengeschmack. Cup O’Joe-Chef Ofer Gvirsmann bietet alles in seinem Café und hat sogar die offizielle Bestätigung, dass es schmeckt: Als er italienische Kaffee-Experten in seinem Lokal bediente, sagten die unmissverständlich, »der Kaffee hier ist ja besser als bei uns zu Hause«.
Noga Schani lebt in Tel Aviv, ist Studentin und bekennende Süchtige. Ein Tag oh-
ne Kaffee sei kein Tag für sie. »Morgens vor dem Frühstück habe ich gleich meinen ersten. Später trinke ich noch mindestens fünf Espressi oder Cappuccini, aber der erste muss Neskaffee Elite sein. Da bin ich traditionell.« Für den Hersteller geht es genau um diese Tradition: »Es ist die Alteingesessenheit der Marke, die ihn so beliebt macht«, betont Elite. »Jede Tasse Kaffee sendet eine Botschaft von Nostalgie, Erinnerungen, Familie, Bekanntheit, Geschmack und Verlässlichkeit. Einfach von Israeli-Sein.«
Elite oder andere Sorten, Israelis sind die Kaffeetrinker der Welt geworden. Der durchschnittliche Bürger genießt 110 Liter pro Jahr, das sind 30 mehr als ein Westeuropäer. Die Amerikaner bringen es gerade mal auf 60 Liter jährlich. Das stimulierende Moment des Koffeins passt wunderbar zum hektisch-chaotischen Alltag in Nahost. Das wollte sich Starbucks, die Ikone des US-Kaffee-
Marktes, im Jahr 2001 zunutze machen. Kaum nach Eröffnung der ersten Filiale in Tel Aviv schrieb eine große Tageszeitung: »Sie bieten ein dunkles Getränk an, das auf der Evolutionsleiter nur einen Schritt von Mopwasser entfernt ist«. Autsch! Der Anfang vom Ende der Starbucks-Kette im heiligen Land. Geplant waren 20 Läden pro Jahr, um schließlich die magische Zahl von 100 zu erreichen. Nach einem Verlust von fünf Millionen Dollar im letzten Jahr packte der Global Player indes 2003 völlig verwirrt seine Kaffeebohnen ein und verließ das kleine Land. Das war Starbucks noch nie passiert. Kenner der Kaffeeszene meinen, dass sich die Kette schlicht verkalkuliert habe und an ihren in den USA funktionierenden Trends festgehalten habe, statt sich lokalen Gepflogenheiten anzupassen. Dazu gehören eine breitere Speisenpalette und stärkerer, süßlicher Kaffee.
Die Einheimischen stört es wenig, dass ihnen das Lokal mit dem grün-weißen Lo-
go abhanden gekommen ist. Sie haben schon längst ihre eigenen Erfolgsmarken kreiert, und auf die sind sie stolz. Allen voran Aroma. Das simple, doch chice Café darf heute in keiner Stadt, die etwas auf sich hält, fehlen. Doch mehr noch: Aroma expandierte bis nach New York und eröffnet jetzt sogar eine Filiale in den heiligen Hallen der Pariser Galeries Lafayette.
Die etwas verstaubt anmutenden Blechdosen, heute immerhin mit Drehverschluss, sind nach wie vor zu haben. Der ursprüngliche Firmensitz, das markante Elite-Haus im Bauhaus-Stil an der größten Kreuzung Ramat Gans, wird jedoch bald dem Erdboden gleichgemacht. Für 44 Millionen Dollar hatte Donald Trump den Platz gekauft, um einen weiteren Wolkenkratzer in Tel Avivs Skyline zu pressen. Trotz amerikanischer Kaufkraft und italienischer Raffinesse ist der Elite Neskaffee nicht totzukriegen. »Er wird immer seine Liebhaber haben«, ist sich Noga Ariel sicher, nimmt einen großen Schluck vom Löslichen und lächelt.

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