Alexander Smoljanski

»Ich habe ein Projekt im Kopf«

Nächste Woche werde ich aus beruflichen Gründen mit meiner Frau für ein paar Jahre nach Paris ziehen. Bevor wir aus Russland nach Deutschland emigriert sind, war das eine Traumstadt für uns. Wir haben dort viele Freunde, und das kulturelle Angebot ist gigantisch. Meine Frau und ich lieben klassische Musik und Museen, das war auch einer der Hauptgründe, warum wir von St. Petersburg nach Berlin gezogen sind. Ich weiß allerdings gar nicht, ob ich so viel von Paris mitbekomme wie meine Frau, denn in der nächsten Zeit werde ich durch meinen Beruf oft in Russland sein.
Seit neun Jahren arbeite ich für den russischen Onlinedienst Intergum. Meine Firma versucht, ein elektronisches Porträt des Gebietes der ehemaligen UdSSR zu zeichnen. Wir übersetzen sukzessive die Archive aller russischsprachigen Zeitungen, Magazine, Fernsehsendungen ins Englische, um sie dem Rest der Welt zugänglich zu machen. Darüber hinaus sammeln wir Statistiken, Biografien, Gesetzestexte und fast alles bis hin zu literarischen Texten. Insgesamt haben wir in unserer Datenbank rund 400 Millionen Dokumente. Unsere Abonnenten reichen von der UNO über die Europäische Kommission bis zur ARD. Außerdem haben wir eine spezielle Suchmaschine entwickelt, mit der sich ganz spezifische Daten aus dem Archiv herausziehen lassen. Oft werde ich gefragt, was der Sinn einer solchen Suchmaske sein soll, es gäbe doch Google oder Yahoo. Das lässt sich aber überhaupt nicht vergleichen. Unser Angebot ist für Professionelle aus Wirtschaft und Wissenschaft, die Suchmaschine ist wie eine scharfe Klinge, mit der man je nach speziellem Wunsch an den Berg aus Informationen herangehen kann und genau den Querschnitt bekommt, den man sucht.
Weil ich mich sehr für Literatur interessiere – früher in Russland habe ich teilweise als Übersetzer englischer Romane ins Russische gearbeitet –, finde ich diese Möglichkeiten besonders spannend, wenn es um die Geisteswissenschaften geht. Da ich die Firma im Ausland repräsentiere, fahre ich häufig zu internationalen Slawistikkongressen, um dort in einem wissenschaftlichen Vortrag unsere Technologie vorzustellen. Mit dieser kann man zum Beispiel eine bestimmte Wortkombination eingeben, und die Software erstellt dann eine Statistik darüber, wie oft die Wörter in dieser oder jener Region in den russischen Massenmedien benutzt wurden. Die Nützlichkeit unseres Konzepts besteht also darin, auch in den Geisteswissenschaften Methoden anzuwenden, die in den exakten Wissenschaften wie der Physik oder der Mathematik üblich sind.
Ich habe ein Projekt im Kopf, um mit diesem System die Geisteswissenschaften verifizierbar zu machen. In Politik, Geschichte und Literatur wird so viel behauptet, aber nichts ist beweisbar. Wenn man eine wirklich ausgeklügelte Maschine hätte, wären viele Äußerungen über Politik, Geschichte und Literatur nicht bloß Blabla, man könnte die ermittelten Werte mit denen anderer Epochen vergleichen und würde auch mehr Grauabstufungen und differenziertere Urteile erhalten. Die meisten malen in ihren Kommentaren über das Zeitgeschehen ja immer nur schwarz oder weiß, diesen Aussagen kann man wenig Vertrauen schenken. Wer von den Kommentatoren hätte sich beispielsweise einen Monat vor dem Niedergang der UdSSR auch nur vorstellen können, dass so etwas passieren würde?
Nach Russland zurückkehren möchte ich nicht. Meine Kinder sind in Deutschland aufgewachsen, auch meine Frau und meine Mutter leben nicht in Russland. Besser finde ich es, außerhalb des Landes zu sein und öfter zu Besuch zu kommen. Es ist schön, dass man im 21. Jahrhundert überall zu Hause sein kann. Ich fühle mich absolut als europäischer Bürger, ich spreche viele Sprachen, reise sehr viel herum, in Zeiten des vereinigten Europas wirkt die Frage, mit welchem Land ich mich identifiziere, komisch auf mich. Auch wenn Deutschland bestimmt nicht mein »zweites Vaterland« geworden ist, bin ich nach 17 Jahren doch geistig mit dem Land verbunden.
Bei der Europameisterschaft war ich deshalb wirklich froh, dass Russland gegen Spanien verloren hat und dass es nicht zum Finale gegen Deutschland kam. Ich glaube, ich hätte kaum gewusst, bei wem ich »Tor« rufen sollte. Das russische Spiel gegen Spanien habe ich mir mit anderen jüdischen Auswanderern in einem amerikanischen Diner in Charlottenburg angesehen. Das ist doch eine absurde Situation: Juden fiebern in einem amerikanischen Lokal in Deutschland mit der russischen Mannschaft. Als mir das klar wurde, dachte ich für einen Moment, ich werde verrückt. Da war es nur passend, dass das Spiel in Wien, der Stadt von Doktor Freud, ausgetragen wurde.
Aber das sagt doch schon alles über unsere Zeit. Ich bin sehr dankbar, dass ich durch meinen Job die Möglichkeit habe, verschiedene Kulturen und Länder kennenzulernen. Das war schon immer mein Traum. Im Gegensatz zu vielen anderen bin ich nicht aus ökonomischen oder politischen Gründen aus Russland ausgewandert. Das Schicksal hat bestimmt, wo ich geboren wurde. Nach 40 Jahren dachte ich, es sei nun an der Zeit, das Schicksal zu korrigieren und selbst zu entscheiden, wo ich leben will.
Das geistige und körperliche Reisen ist ja auch etwas sehr Jüdisches. Für mich hat das Judentum viele Facetten. Ich finde, dass jeder Jude ist, der sich als solcher fühlt; die alte Konstellation vor der Zeit Mendelssohns, der die religiösen Gesetze entstammen, ist doch vorbei. Wie viele meiner Freunde bin ich absolut säkular, für mich eint die Juden eher eine gemeinsame Art des Denkens, jenseits aller politischen Differenzen, mit der ich mich auch identifiziere. Ich habe in Russland Texte von Isaac Bashevis Singer aus dem Englischen übersetzt und war vollkommen erstaunt, wie sehr seine Denkbewegungen und seine Psychologie der meinen entsprachen. Was mir an ihm so verwandt scheint, ist die jüdische Mentalität.
Wichtig am Judentum sind auch die gemeinsame Geschichte und ein Erfahrungsschatz. Allerdings hasse ich es, wenn man Juden nur als Opfer sieht, es gab in der jüdischen Geschichte sowohl individuelle als auch kollektive Siege.
Am wichtigsten ist mir, dass man aus der Tradition ein moralisches Wertegerüst mitnimmt, ob das nun aus dem Protestantismus oder dem Judentum kommt, finde ich nebensächlich, Hauptsache ist, was am Ende dabei herauskommt. Für meine Frau und mich war es trotzdem selbstverständlich, dass wir unseren Sohn in eine jüdische Schule geben. Er soll seine Identität aus vielen Herkünften entwickeln. Die jüdische soll dabei bestimmt nicht die letzte sein. Gerade weil meine Kinder in Deutschland aufwachsen, war es mir wichtig, dass sie sich nicht nur als Russen oder Deutsche, sondern als jüdische Kinder verstehen, die viele Sprachen sprechen und viele Traditionen mitbekommen. Auch wenn sie sich sehr mit Deutschland identifizieren, sind sie für mich mehr als normale Deutsche – eher Deutsche mit europäischem Upgrade, um mal in der Sprache der Informatik zu reden.
Deshalb studiert mein Sohn auch gerade in Straßburg, meine Tochter geht bald auf eine Schule in Toronto. Ich habe ihnen die Weltläufigkeit in die Wiege gelegt: Eines Abends fragte mich meine Tochter, in wie vielen Ländern ich in meinem Leben schon gewesen sei. Nach langem Zählen kam ich auf 97.

Aufgezeichnet von Tilman Vogt

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