Jakob Horowitz

»Ich brauche eine Aufgabe«

Beerdigungen gehören genauso zu unserem Leben wie Geburtstage. Vor meinem Fenster am jüdischen Friedhof in Frankfurt am Main kann ich sie an manchen Tagen im Stundentakt beobachten. Bisweilen jedoch, wenn ich, wie vor wenigen Tagen, Abschied von einem alten Freund nehmen muss, fällt mir der Gang über den Friedhof schwer. Lolek war nach dem Krieg wie ein großer Bruder für mich. Er schenkte mir meine erste Armbanduhr.
Mein Leben war klar vorgezeichnet. Geboren und aufgewachsen bin ich im polnischen Piotrkow. Mein Vater führte einen Steinmetzbetrieb, den mein Großvater Ende des 19. Jahrhunderts gegründet hatte. Als Kind spielte ich in der Werkstatt. Meine Berufswahl stand fest. Wäre es nach meinem Vater und mir gegangen, hätte ich seine Nachfolge angetreten. Aber es ging nicht nach uns, es ging nach den Nazis.
Meine Mutter und meine kleine Schwester starben in den Gaskammern von Treblinka. Vater und ich überlebten – Buchenwald, Schlieben und Theresienstadt. Getrennt von uns entkam auch meine zwei Jahre ältere Schwester Dyna dem Grauen. Sie lebt heute in Israel. Früher hat sie mich oft besucht, aber in den vergangenen Jahren musste sie für ihren kranken Lebensgefährten sorgen. Zuletzt war sie wegen Loleks Beerdigung in Frankfurt. Während des Krieges wartete er fast täglich, stundenlang, mit einer Handvoll Essen vor der Munitionsfabrik, in der meine Schwester Zwangsarbeit leisten musste. Jetzt werde ich den Auftrag für sein Grabmal bekommen.
Von Montag bis Freitagmittag gehe ich meinen Geschäften nach: den Grabsteinen. Rund 50 Jahre arbeite ich nun schon als Steinmetz hier am Friedhof. Mit Mitte 50 musste ich jedoch die schwere Arbeit an den Steinen aus der Hand geben. Bis dahin habe ich alles selbst gemacht, am liebsten allein. Heute kontrolliere ich nur noch die Fertigung und wickle den Verkauf ab. Eine beauftragte Firma behaut die Steine und stellt sie auf. Den Schriftzug jedoch, die hebräischen Buchstaben, entwerfe ich noch selbst. Letztlich bin ich heute Subunternehmer. Es fällt mir schwer loszulassen. Aber 2006 erlitt ich einen Schlaganfall. Seitdem spüre ich die Grenzen meiner körperlichen Kraft deutlicher. Solange ich aber noch irgendwie kann, will ich arbeiten.
Den Haushalt habe ich im Griff. Vormittags geht mir eine Haushälterin zur Hand, das Einkaufen und Kochen erledige ich selbst. Ich esse zwar nicht streng koscher, aber das Judentum spielt eine zentrale Rolle in meinem Leben. Ich bin nicht religiös, sondern eher traditionell. So faste ich nur an Jom Kippur – ich habe in meinem Leben genug gefastet.
Dienstag- und Donnerstagnachmittag habe ich eine halbe Stunde Krankengymnastik. Am Freitag lädt mich immer meine 49-jährige Tochter Pava ein, um Erew Schabbat im Kreis der Familie zu feiern. Darauf freue ich mich die ganze Woche. Pava wohnt nur wenige Autominuten entfernt. Vor drei Monaten hat sie mir den Autoschlüssel abgenommen. Seitdem holt sie mich ab. Meine jüngere Tochter Mary Mascha lebt in den USA. Die Familie ist mir sehr wichtig. Vor allem meine Enkelkinder. Mich besuchen Verwandte, Freunde und Bekannte aus aller Welt. Und ich telefoniere sehr viel. Kürzlich raubte mir eine Erkältung für einige Tage die Stimme. Das war schrecklich. Seit zwei Monaten habe ich einen Computer. Ich möchte lernen, E-Mails zu schreiben. Zu verreisen, das traue ich mir seit dem Schlaganfall nicht mehr zu. Davor war ich mindestens zweimal im Jahr in Israel.
Samstags gehe ich für ein paar Stunden in die Synagoge. Am Nachmittag bin ich dann zu Hause. Ich bin gern allein, lese viel oder schaue fern. Ich interessiere mich für das aktuelle Tagesgeschehen, besonders natürlich für Israel. Tage, wie wir sie jetzt wieder erleben, wühlen mich auf. Die Entwicklung bekümmert mich, aber die Medienberichterstattung macht mich wütend. Wochenlang flogen unzählige Raketen auf Israel. Darüber wurde nur am Rande berichtet. Wenn Israel dann zurückschlägt, wird groß aufgeschrien und verurteilt. Hinzu kommt die Angst: Mein Enkel Gil leistet gerade seinen Militärdienst in Israel.
Neben der Zeitung lese ich religiöse und historische Bücher. Nur wer die Geschichte versteht, kann sich die Gegenwart erklären. Auch mein Leben baut auf der Vergangenheit auf. Ich wurde immer wieder rausgerissen. Nicht nur während der Schoa, auch die Jahre danach hatte ich nicht viele rosa Tage. Nach dem Krieg mussten wir Polen wegen der antisemitischen Pogrome verlassen. Ich ging 1946 nach Palästina – aus dem Holocaust in den Unabhängigkeitskrieg. Später arbeitete ich als technischer Zeichner. Ich gebe zu, mich in Israel wohler gefühlt zu haben als in Deutschland. Frankfurt wärmt mich nicht und kühlt mich nicht. In Israel habe ich mich zu Hause gefühlt, aber es war nicht die richtige Zeit. Ich wurde krank. Die Nerven. Ich wollte zurück zu meiner Familie. Daher ging ich 1955 nach Berlin, zu Dyna, die dort geheiratet hatte und mit ihrem Mann ein Schmuckgeschäft führte, in dem ich arbeiten konnte. Diese drei Jahre gehören zu den schönsten meines Lebens. Ich lernte meine künftige Frau kennen – Liebe auf den ersten Blick, auch wenn wir heute getrennt leben. Gemeinsam gingen wir nach Frankfurt, wo mein Vater inzwischen diesen Betrieb an der Eckenheimer Landstraße führte. Das war anfangs eine schöne Zeit: Letztlich wurde ich also doch noch Steinmetzmeister. Aber ich musste die Werkstatt früher übernehmen, als mir lieb war, denn mein Vater starb 1967. Er wurde direkt vor dem Friedhof überfahren.
Bisweilen frage ich mich, warum das alles sein musste. Ich komme nicht dagegen an. Auch der Schlaganfall hängt mit der Vergangenheit zusammen: Es war am 1. Mai 2006. Ich kam gerade aus Buchenwald, wo ich an einem dreitägigen Seminar zum Holocaust teilgenommen hatte. Das war zu viel.
Gelegentlich suchen mich Albträume heim, und manchmal weine ich. Aber nur, wenn ich allein bin. Die Erinnerungen und Gefühle übermannen mich, plötzlich, ohne Vorwarnung, aus dem Nichts. Bis zu meinem Schlaganfall habe ich regelmäßig, manchmal mehrmals die Woche, Vorträge in Schulen, Kirchengemeinden oder auf Einladung anderer Institutionen gehalten. Unzählige Gruppen führte ich über den Friedhof. Heute kann ich solchen Anfragen nur noch selten nachkommen.
Aber ich brauche eine Aufgabe. Bis 2000 hatte ich die Friedhofsverwaltung inne. Heute übernehme ich noch die Vertretung und den Dienst am Sonntag. Dann komme ich kaum eine Minute zur Ruhe. Beinahe jeder Besucher, der Jahrzeit hat, kommt auf einen Sprung vorbei. Ständig klingelt das Telefon, oder Leute aus dem Ausland bitten mich, ihnen bei der Suche nach den Gräbern ihrer Angehörigen zu helfen.
Fast täglich gehe ich über den Friedhof. Ich bin bei der Chewra Kadischa und habe bis zu meinem Schlaganfall an nahezu jeder Beerdigung teilgenommen. Heute schaffe ich das nicht mehr, aber ich werde mich mein Leben lang den Toten verpflichtet fühlen. Als ich 13 Jahre alt war, überlebte ich die Vernichtungsaktion im Ghetto in einer Gruft. Dort versteckte ich mich mehrere Wochen. Allein. Bis der Winter kam und die Spuren im Schnee mich hätten verraten können.
Ich bin ein bisschen stolz darauf, in all den Jahren hier auf dem Friedhof einige meiner Vorstellungen durchgekämpft zu haben: Selbstmörder, insbesondere jene der Jahre 1933 bis 1945, haben Grabsteine erhalten und werden nunmehr nicht nur am Rand beerdigt. Außerdem habe ich ein Feld für Mischeheleute durchgeboxt. Friedhöfe sind ein Abbild des Lebens. Dieser Friedhof drückt Judentum aus. Ich liebe und ehre die Tradition. Es tut mir weh zu sehen, dass mitunter fremde, moderne Elemente Einzug halten. Da kritisiere ich bisweilen meinen Nachfolger. Ich bin ein großer Freund von Kunst, aber alles hat seinen Platz.
Im März werde ich 80 – inoffiziell. Bei der Registratur in Buchenwald rettete mir ein Beamter das Leben, indem er mich zwei Jahre älter machte, jüngere Kinder wurden nach Auschwitz zurückgeschickt. Nach dem Krieg trug mein Kinderheimleiter »1930« in meine Papiere ein, damit ich mit der Kinder-Alija von Blankenese nach Palästina ausreisen konnte. Heute darf ich so alt sein, wie ich bin.

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