Ralph Giordano

»Ich bin auch ein Glückskind«

Herr Giordano, wenn man sich mit Ihnen über Ihr Leben unterhalten will, was erwartet einen dann?
giordano: Ein gewaltiger Rückblick. Bei 84 Lebensjahren kein Wunder. Manchmal bin ich selbst von meinem Leben überwältigt. Jetzt habe ich es in meiner Autobiografie zusammengefasst. »Erinnerungen eines Davongekommenen«, da steckt alles in einem Buch: Alles, was ich bisher geschrieben habe. Alles, was ich gefilmt habe. Alles, was ich bin. Und wenn ich mein Leben so betrachte, besteht es aus fünf Abschnitten.

Der erste?
giordano: Das war die Vor-Nazizeit. Die zehn Jahre zwischen meiner Geburt 1923 und der »Machtergreifung« 1933, mein Elysium.

Elysium?
giordano: Weil es die einzige Phase war, in der ich ganz selbstverständlich dazu gehörte. Ohne Wenn und Aber.

Das änderte sich mit Hitlers Regierungsantritt?
giordano: Ja, schlagartig. Für mich begann eine Zeit, der ich in meinem Buch den Titel »Hiob« gegeben habe. Gleich bei der Einschulung ins Hamburger Johanneum im April 1933 wurden wir Schüler in »Arier« und »Nichtarier« eingeteilt. Mein Bruder und ich haben uns zur größeren Gruppe gestellt, zu den »Ariern«. Wir wussten ja gar nicht, was das war. Am Nachmittag sind wir dann belehrt worden, dass wir falsch standen.

Was ging da in Ihnen vor?
giordano: Das hat mich tief getroffen. Zwar wusste damals keiner, selbst die Nazis wohl nicht, dass es einmal in Auschwitz enden würde. Aber dass ich nicht mehr dazugehörte, von den anderen getrennt wurde, war für mich ein Urerlebnis. Und damals hatte ich die dumpfe Ahnung: Jetzt beginnt ein neues Zeitalter. Besonders klar wurde mir das durch ein Erlebnis mit meinem damals besten Freund Heinemann. Eine Jungen-gruppe kam auf mich zu, und Heinemann sagte: »Ralle«, so nannten mich damals alle, »mit dir spielen wir nicht mehr, du bist Jude.« Das war 1935. Von diesem Satz werde ich mich nie erholen. Das war das Schlimmste. Vielleicht sogar schlimmer als die Verhöre bei der Gestapo.

Sie überlebten die Nazizeit im Untergrund.
giordano: Ich war 22, als die 8. britische Armee meine Familie und mich am 4. Mai 1945 aus einem mit Ratten verseuchten Kellerloch im Norden Hamburgs befreite. Damals begann mein dritter Lebensabschnitt. Da ging es vorwiegend um das, was ich die »zweite Schuld« genannt habe: das kollektive Verdrängen der Nazizeit nach Kriegsende und mein Kampf dagegen.

Die Bundesrepublik machte damals ihren Frieden mit den Tätern.
giordano: Viele sind nicht nur straffrei davongekommen, sondern konnten ihre Karrieren ungehindert fortsetzen. Das heißt, die Opfer wurden durch diese kollektive »Entstrafung« noch einmal ermordet. Unfassbar.

Sind Sie auch deshalb 1946 in die KPD eingetreten?
giordano: Ja. Aber dieser Schritt war ein Irrtum. Ich war auf einem Auge blind und glaubte, die Feinde meiner Feinde müssten auch meine Freunde sein. Deshalb war mein Eintritt in die Kommunistische Partei Deutschlands nach meinem damaligen Erkenntnisstand ganz organisch. Die Nazis hatten zwei Todfeinde: Die Juden und die Roten, die Bolschewiki. Es gab also ein Gefühl der Zusammengehörigkeit. Verstärkt wurde das durch die Dankbarkeit gegenüber der Roten Armee. Sie war es, die die entscheidenden Schlachten des Zweiten Weltkriegs gegen Hitler-Deutschland unter fürchterlichen Opfern geschlagen hatte.

Dennoch haben Sie nach elf Jahren mit der Kommunistischen Partei gebrochen. Warum?
giordano: Aus den gleichen antinazistischen und humanen Gründen, die mich bewogen hatten, ihr beizutreten. Ich hatte festgestellt, dass der Stalinismus ebenfalls ein fürchterliches, ein mörderisches System war. Als ich das erkannt hatte und mich trennte, ist ein großes Stück Haut mit abgegangen.

Und dann?
giordano: Dann begann mein viertes Leben, im Buch »Fasten your seatbelt«, bitte anschnallen – das symbolisiert diesen Abschnitt wohl am besten. Es war meine Zeit als Fernsehmann. 1961 beim NDR, ab 1964 bis 1988 beim WDR. Und das mit Möglichkeiten, wie ich sie mir in meinen kühnsten Träumen nicht hatte vorstellen können. Ich konnte 25 Jahre lang in die Welt hinausfliegen und tun und lassen, was ich wollte. Ein Leben wie auf Flügeln, jenseits der Schwerkraft. Diese Phase dauerte bis zu meinem 65. Lebensjahr. Aber da hatte schon ein neuer, ein fünfter Abschnitt begonnen: meine Laufbahn als Schriftsteller. 1982 war meine autobiografische Hamburger Familien- und Verfolgtensaga »Die Bertinis« herausgekommen, 1987 »Die zweite Schuld oder Von der Last, Deutscher zu sein«. In den zwanzig Jahren seither habe ich inklusive meiner »Erinnerungen eines Davongekommenen« 17 Bücher geschrieben. Und jedes von ihnen kommt aus der Tiefe meiner Biografie.

Kein leichtes Leben…
giordano: Richtig, über weite Strecken war es tief verschattet. Die Nazizeit, dann 21 Jahre lang, von 1959 bis 1980, alle Höllen der Magenkranken. Meine beiden Frauen, Helga und Röschen, sind an Krebs gestorben. Und mit ihnen auch Teile von mir. Den Preis für ein großes Gefühl muss der Überlebende zahlen. Aber – ich bin auch ein Glückskind.

Inwiefern?
giordano: Ich konnte immer schöpferisch alles tun, was ich wollte. Das ist ja nicht selbstverständlich. Ich habe das Glück, in einem demokratischen Staat zu leben, in dem das möglich war. Obwohl vieles, was ich schrieb und filmte, nun wirklich nicht regierungsfromm gewesen ist. Doch der demokratische Verfassungsstaat ist von allen Staatsübeln der Menschheitsgeschichte das kleins- te. Und den werde ich verteidigen.

Wie würden Sie Ihr Verhältnis zu Deutschland beschreiben?
giordano: Wenn ich eine Bilanz ziehen sollte: Dieses Deutschland hat mich gar nicht gefragt, was ich wollte oder nicht wollte. Vor der Befreiung durch die Alliierten stand für mich fest, dass ich dieses Land verlassen würde. Das ist nicht eingetreten.
Was hat Sie umgestimmt?
giordano: Zum Beispiel die Frage: Was wird aus den Menschen, denen wir unser Leben zu verdanken hatten? Da konnte ich mich nicht einfach so fortmachen aus diesem Kälte- und Hunger-Deutschland. Und sehr schnell nach 1945 war mir klar geworden: Hitler ist zwar militärisch geschlagen, aber geistig, oder besser gesagt ungeistig, nicht. Und er ist es bis heute nicht. Fast 18.000 rechtsextremistische Straftaten im Jahre 2006! Da kann man doch nur fragen: Wo sind wir denn? Nein, dieses Deutschland ist mit seiner Vergangenheit nicht im Reinen. Aber noch etwas hat mich hier gehalten – die deutsche Sprache. Sie ist immer meine Mutter gewesen. Auch in finsterster Nazizeit ist die deutsche Sprache meine Heimat geblieben. Zudem stellte ich ab Mitte der sechziger Jahre einen Wandel in Teilen der deutschen Gesellschaft fest. Es gab nun auch viele Menschen, die in den elementaren Grundfragen genauso dachten wie ich, oder ich wie sie.

Haben Sie dennoch später mal daran gedacht, Deutschland zu verlassen?
giordano: Die Nazis haben mir einen tiefen Fluchtinstinkt eingepflanzt. Unser Leben im Dritten Reich war ja bedroht von dem jederzeit möglichen Gewalttod. Nicht, weil wir uns auf die Straße stellten und brüllten »Nieder mit Hitler«, sondern, weil wir da waren. Unser Verbrechen war unsere bloße Existenz. Nach der Befreiung konnte ich diesen Fluchtinstinkt aber nicht einfach wegschieben. Hat es doch bis heute kaum eine Zeit gegeben, in der nicht durch irgendwelche rechten Schweinereien an diesen Instinkt appelliert wurde.

Was hat Sie dann doch hier gehalten?
giordano: Meine innere Beziehung zu denen, die nicht überlebt haben. Das hat alles andere bestimmt. Das war und ist mein Kompass. Mein ganzes Leben ist ein Dialog mit denen, die es nicht geschafft haben. Ich konnte mich nicht davonmachen. Dieses Deutschland hat mir meine Unlösbarkeit eingerichtet. Die Nazis haben mich zum Juden geprügelt, dann wollte und will ich es auch sein.

Wenn Sie Deutschland den Rücken gekehrt hätten, wo wären Sie hingegangen?
giordano: Nach Israel! Deutschland ist zwar mein kulturelles Vaterland, aber der jüdische Staat mein Mutterland. Israel ist meine Liebe, meine Sehnsucht, meine Sorge und meine Kritik, aber diese Kritik ist in meine Liebe zu und Sorge um Israel eingehüllt.

Wie würden Sie Ihr Verhältnis zu Israel beschreiben?
giordano: Selbst als wortgewandter Mensch fällt es mir schwer, meine Beziehung zu Israel zu erklären. Das geht so tief, dass ich das nicht ausloten kann. Nur so viel: Ich wache morgens mit der Sorge um Israel auf und gehe mit ihr zu Bett. Deshalb bin ich auch so empört, wenn Israel so einseitig in den Medien auf die Anklagebank gesetzt wird. Im Nahostkonflikt gibt es keine einseitigen Schuldzuweisungen! Und: Israel ist in diesem Konflikt der weitaus bedrohteste Teil. Ich gestehe: Mein Herz bebt und zittert oft genug um dieses Mutterland.

Ist Ihre kämpferische Haltung etwas Jüdisches?
giordano: Da mag es schon etwas Makkabäisches geben. Die Nazis haben nur zwölf Jahre meines Lebens beherrscht, aber es waren eben die prägenden. Doch meine schöpferische Tätigkeit war nie allein auf die Nazizeit beschränkt. Und das ist mir sehr wichtig. Deshalb engagiere ich mich zum Beispiel dafür, dass der Völkermord an den Armeniern weiter publik gemacht wird. Über den Holocaust weiß die ganze Welt Bescheid, aber das Massaker an den Armeniern ist kaum präsent. Und die Türkei leugnet diesen Genozid weiterhin heftig. Das ist unglaublich. Deshalb darf eine Türkei, die sich nicht zu diesem Völkermord bekennt, nicht Mitglied der Europäischen Union werden.

Sie sind nicht nur ein streitbarer Geist, sondern auch ein großer Versöhner. Was ist stärker ausgeprägt?
giordano: Ich bin oft gefragt worden: Kannst du auch verzeihen? Und meine Antwort lautet: Ich lasse mich an Versöhnungsbereitschaft von niemandem übertreffen. Unter drei Voraussetzungen: Ehrlichkeit, Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit. Das gilt auch für ehemalige Nazis. Ein Beispiel aus Sindelfingen. Da kommt eine Frau in meinem Alter bei einer Lesung auf mich zu. Aus dieser Frau, die vermutlich nicht viel mehr getan hatte, als die Hand zum Hitlergruß zu heben, brach ein tiefes Schuldgefühl förmlich heraus. Sie hat sich wohl ihr ganzes Leben damit herumgeschlagen. Ich war der Erste, dem sie sich offenbarte. Und der habe ich selbstverständlich die Hand gegeben.

Es gibt aber Menschen in Deutschland, die es ablehnen würden, Ihnen die Hand zu geben.
giordano: Jude sein in Deutschland ist bis heute nichts Normales. Das wird auf absehbare Zeit auch so bleiben.

Haben Sie schon mal Morddrohungen erhalten?
giordano: Ich habe seit 1991 mehr als 1.300 Morddrohungen bekommen! Eine, die immer wiederkehrt, stammt zum Beispiel aus dem Bergischen Land hier in der Nähe von Köln. Darin heißt es: Es sei eigens für mich eine Gaskammer gebaut worden, die an einem 69 Kilogramm schweren Hausschwein ausprobiert worden sei, mit einer Todeskampfzeit von vierzehn Minuten. Genau das habe man auch mir zugedacht. Aber davon lasse ich mich nicht kirre machen. Ich bleibe in der Öffentlichkeit. Dieser Gestapo-Verschnitt treibt mich nicht noch einmal in den Untergrund.

Das Gespräch führte Christian Böhme.

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