zuwanderer

»Hier liebe ich meinen Beruf«

von Costanze Baumgart

Sergej Kissilevs Optimismus wirkt ansteckend. »Irgendwie habe ich gewußt, daß alles gut gehen wird«, faßt er das Abenteuer seiner Übersiedlung von Sankt Petersburg nach Köln zusammen. Diese Zuversicht scheint auch durch, wenn er von den Anfängen in Deutschland erzählt. Im März 1998 trifft er in Köln ein, wo sein älterer Bruder bereits seit fünf Jahren lebt. Gemeinsam mit ihm fährt er in die Landesstelle Unna-Massen. Die zentrale Migrationsstelle in Nordrhein-Westfalen betreut Aussiedler, Zuwanderer und Flüchtlinge. Lebhaft schildert der heute 32jährige, wie dort die deutschen Mitarbeiter freundlich und ausführlich alles Notwendige für den Start im neuen Land erklärten. Und er erzählt, wie der Mitarbeiter am Ende sagte: »Jetzt müßt ihr sehen, wie ihr alles organisiert bekommt, wie ihr alles macht. Es wird sich keiner mehr um euch kümmern.« Heute weiß Sergej, daß der Mann recht hatte. »Es hat ein bißchen weh getan. An dem Tag war außerdem noch sehr schlechtes Wetter, es hat geregnet. Ich bin zurück in mein Zimmer, und da hätte ich fast geweint.«
Doch diese Mahnungen sind auch Ansporn für den damals 25jährigen. Energisch nimmt er alles in Angriff, um im neuen Land wirtschaftlich Halt zu bekommen: Er geht zum Sozialamt, beginnt den Sprachkurs des Arbeitsamts und mietet in einem winzigen Dorf nicht weit von Köln ein Zimmer. Er teilt es sich mit einem anderen Mann. In dem Haus leben Familien aus allen Teilen der Welt: aus Albanien, Kroatien, Schwarzafrika und Deutschland. Bad und WC werden gemeinschaftlich benutzt. »Das war in Ordnung und hat gut funktioniert. Außerdem war es vorübergehend, ich wohnte ja meistens bei meinem Bruder.«
Ein Mensch fehlt ihm allerdings in dieser Zeit: Seine Freundin Anna. Die lebt in Sankt Petersburg und ist sich nicht sicher, ob sie nach Deutschland auswandern möchte. Doch Sergejs Sehnsucht ist groß – so groß, daß er nach Petersburg reist. Dort heiratet er seine Freundin und kehrt gemeinsam mit ihr nach Deutschland zurück. Während Annas Familie weiterhin in Rußland lebt, wohnen Sergejs Mutter und sein jüngerer Bruder inzwischen ganz in seiner Nähe, in Köln.
Als seine Frau 1999 nach Deutschland kommt, hat Sergej – er ist gelernter Koch und Lebensmitteltechniker – bereits einen Job gefunden. Beim Surfen im Computersystem des Arbeitsamts war er fündig geworden: Er beginnt als Koch in der Alten Feuerwache, sie ist interkulturelles Bürgerzentrum und Kneipe in einem. »Es war dort sehr international. Ich hatte deutsche Kollegen, aber etliche waren auch aus anderen Ländern: aus dem Iran, Marokko, Südkorea.« Mehr als drei Jahre bleibt Sergej dort. »In dieser Zeit habe ich viel gelernt: Wie man mit Menschen umgeht, wie das deutsche Arbeitsleben aussieht, und natürlich hat sich mein Deutsch sehr verbessert. Außerdem habe ich dort viele Freunde gefunden.«
Heute arbeitet er im beliebten Stadtteil Ehrenfeld in einer Kneipe mit blank gescheuerten Holztischen und internationaler Speisekarte. Sergej Kissilev ist glücklich: »Je länger ich meinen Job mache, desto mehr gefällt er mir. In Deutschland habe ich viele exotische Lebensmittel und neue Zubereitungsarten kennengelernt. Ich habe mir beigebracht, auch asiatische und orientalische Gerichte zu kochen. Ich habe hier wirklich Liebe zu meinem Beruf entwickelt.«
Warum ist er nach Deutschland gekommen? Bevor Sergej Kissilev antwortet, überlegt er einen Moment, als wolle er sich selbst noch einmal ganz klar werden. Nein, das Judentum sei es nicht gewesen. Dann beschreibt er seinen ersten Eindruck von Deutschland, das Bild, das er bekam, als er zum ersten Mal seinen Bruder besuchte: »Hier ist alles für die Menschen gemacht, jedenfalls habe ich das so empfunden. Was mich an Rußland stört – früher und auch jetzt noch –, ist, wie mit den Menschen umgegangen wird. Den Staat scheint nicht zu interessieren, wie es dem Bürger geht.«
Als Sergej vor acht Jahren nach Deutschland kam, war ihm das Land schon ein wenig vertraut. Denn als Kind hatte er mit seiner Familie fünf Jahre in Dresden gelebt, wo der Vater als Offizier stationiert war. Trotz Heimweh gefiel es Sergej in der DDR. Vor allem erinnert er sich an die vergleichsweise gute Versorgungslage. »Die Lebensqualität war tausendmal besser als in der Sowjetunion. Um Brot zu kaufen, mußte man nicht Schlange stehen.«
Besonders betont Sergej, daß sich die Familie in der DDR gut integrieren konnte. Keine Isolation, wie bei so vielen dort stationierten sowjetischen Militärs? Das hätte eher die einfachen Soldaten betroffen, ist Sergej überzeugt und erzählt, wie seine Eltern durch die »Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft« gute Bekannte fanden – und die Kinder Spielkameraden. »Die deutschen Kinder sprachen ein bißchen russisch und wir ein bißchen deutsch. Und weil alle es wollten, ging das auch sehr gut.«
Das Judentum spielt in Sergejs Kindheit keine Rolle. Zu Hause wird kaum darüber gesprochen, daß sie Juden sind. »Meine Eltern und Großeltern waren überzeugte Kommunisten, sie haben daran geglaubt.« Als Jugendlicher jedoch beginnt Sergej, sich mehr und mehr für seine Herkunft zu interessieren. Er befragt die Großeltern, die erzählen ihm ihre Kindheitserinnerungen. So erfährt Sergej, daß sein Ururgroßvater Kantor an einer Synagoge in Weißrußland war. Fast ein bißchen erstaunt berichtet er davon, wie er Mitte der 90er Jahre zum deutschen Konsulat in Sankt Petersburg ging, um seine Ausreise zu beantragen: »Das wichtigste Dokument war die über 100 Jahre alte Geburtsurkunde meiner Urgroßmutter mit Unterschrift des Rabbiners und dem Synagogen-Stempel.«
Im Selbststudium eignet sich Sergej viel Wissen über die Geschichte Israels und des jüdischen Volkes an. Und er beginnt, die Tora zu lesen, auf die er sich im Gespräch immer wieder bezieht. Seinen ersten Gottesdienst in einer Synagoge erlebt er jedoch erst in Köln. Heute wünscht er sich, daß seine Frau, deren Vater Jude ist, zum Judentum übertritt. »Aber das muß sie natürlich selbst entscheiden«, betont er. Wenn er weiterspricht, merkt man, wie sehr ihm das Thema am Herzen liegt. »Der Weg zur Religion war für mich ein langer und harter Weg. Für mich war es wirklich schwierig, eine Antwort auf die Frage zu bekommen, wer sind diese Juden?« Er wünscht sich, daß seine Kinder mal ihre Wurzeln kennenlernen, daß sie in der Synagogen-Gemeinde den Kindergarten und die Grundschule besuchen. »Ich möchte, daß sie wissen, woher sie kommen. Wenn sie erwachsen sind, können sie dann selbst entscheiden, ob sie etwas damit anfangen wollen.«
Viel Neues und manche Brüche hat die Auswanderung für Sergej Kissilev gebracht. Doch er bewahrt sich auch Kontinuitäten. Früher in Petersburg engagierte er sich für die Grüne Partei, die in den Straßen der Stadt Bäume pflanzte und Grünflächen anlegte. Kaum in Deutschland, wird Sergej Fördermitglied bei Greenpeace, steht an dessen Info-Stand und verteilt Flugblätter. Inzwischen läßt ihm seine Arbeit als Koch aber kaum noch Zeit dafür: Ab vier Uhr nachmittags steht er in der Küche, kocht nicht nur, sondern ist auch verantwortlich für die Planung, so daß er nicht selten erst gegen zwei Uhr nachts nach Hause kommt. »Meine Frau arbeitet am Vormittag. In der Woche sehen wir uns praktisch überhaupt nicht. Wenn ich dann frei habe, möchte ich die wenige Zeit gerne mit ihr verbringen.«
Trotzdem liegt dem jungen Mann gesellschaftliches Engagement weiterhin am Herzen. Als er nach Deutschland kam, erzählte ihm sein Bruder, daß die jüdische Gemeinde mit den Neuankömmlingen aus Osteuropa noch Probleme habe. Die Situation mit zahlreichen neuen Mitgliedern aus einem anderen Land, einer anderen Kultur stellte alle vor große Herausforderungen. Inzwischen haben sich die Dinge jedoch positiv entwickelt, und Sergej Kissilev möchte gern ehrenamtlich in der Gemeinde arbeiten. »Vielleicht läßt sich das ja ein bißchen besser mit meinen Arbeitszeiten kombinieren als die Arbeit für Greenpeace.« Die Dame im Gemeindebüro, die seinen Antrag bearbeitet, weiß jedenfalls schon Bescheid.

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