Esther Freud

Heim und Heimat

von Markus Hesselmann

Ein solches Zuhause hat Esther Freud lange gesucht. »Ich liebe es«, sagt die Schriftstellerin. »Wie könnte man das nicht? Es ist wunderschön.« Das Haus, in dem sie mit ihrem Mann und ihren drei Kindern lebt, liegt in einer ruhigen Straße des Londoner Ortsteils Highgate. Ein paar Meter weiter beginnt der Stadtwald. Das Gebäude wirkt von der Straße aus eher flach. »Fast wie ein Landhaus«, sagt Esther Freud. »Es geht in die Breite und hat Weite. Die meisten Londoner Häuser sind schmal und gehen steil in die Höhe.« In so einem steilen Haus hätten sie vorher gewohnt. Sie habe sich dort nicht wirklich wohl gefühlt. Esther Freuds neues Domizil dehnt sich von der breiten Straßenansicht nach hinten und nach unten hin aus. Hanglage, eine Treppe führt in die große Wohnküche hinunter, eine Glasfront öffnet sich dort zur Terrasse, dann ein Garten, der sich in eine Senke erstreckt. Ein Huhn huscht über die Veranda. Ganz unten im Garten, zwischen Büschen und Bäumen, tollen die Kinder auf einem Trampolin herum. Daneben ein kleiner formschöner Plastik-Hühnerstall, Marke »Omlett«. Dem neuen Ideal vom Leben im urbanen Dorf kommt Esther Freud mit ihrem Heim in Highgate recht nahe.
Ein Heim, ein Zuhause, eine Heimat – darum geht es auch in Esther Freuds Romanen. In ihrem neuesten Buch Liebe fällt ist das nicht anders. Die junge Heldin Lara ist die Tochter eines deutschen Flüchtlings, der seinen Namen von Wolfgang in Lambert geändert hat und in London lebt. Esther Freuds Vater Lucian, der große Maler, ist in Berlin geboren. Als Zehnjähriger floh er 1933 mit seinem Vater Ernst, einem renommierten Architekten, vor den Nazis nach England. Fünf Jahre später emigrierte auch Sigmund Freud aus Wien nach London. Der Begründer der Psychoanalyse ist der Urgroßvater Esther Freuds.
Ein Titan in der Familie – wie wird man damit fertig? »Wir ignorieren ihn«, sagt Esther Freud, lacht und erzählt die Geschichte von der Grapefruit. Einmal habe ein aufgeregter alter Mann ihren Vater unvermittelt auf der Straße angesprochen. Ob er nicht verwandt sei mit »the great Freud«? »Und da wir Engländer ›Freud‹ wie ›Fruit‹ aussprechen, verstand mein Vater nur ›Grapefruit‹.« Seitdem ist Sigmund bei ihnen nur die Grapefruit. »Es ist vielleicht typisch britisch, dass wir uns den großen Erfolg unserer Verwandten nicht auf die Fahnen schreiben, sondern selbst etwas erreichen wollen.«
Esther Freud hat viel erreicht. Ihre Bücher wurden in 13 Sprachen übersetzt. Ihr Erstling, Marrakesch, wurde mit Kate Winslet in der Hauptrolle verfilmt. Sie spricht von sich selbst stolz als Britin, interessiert sich aber sehr für das Geburtsland ihres Vaters. In vielen ihrer Romane sind die Protagonisten Emigranten deutscher Herkunft. In Haus am Meer zum Beispiel der Architekt Klaus Lehmann, auf dessen Spuren sich eine junge Engländerin setzt. Esther Freuds Romanhelden scheinen sich nach dem Land ihrer Väter zu sehnen, obwohl dieses Land sehr grausam zu ihnen war. Der jüdische britische Historiker Martin Gilbert hat einmal gesagt, dass deutsche und österreichische Juden Deutschland oder Österreich nie wirklich verlassen hätten. Er nennt den Kunsthistoriker Ernst Gombrich als Beispiel für jemanden, der sich seine Wohnung im Londoner Exil vollständig im Wiener Stil ausgestattet hat. Auch bei Sigmund Freud war es so. Im Freud-Museum in Hampstead, ein paar Meilen von Esther Freuds Wohnung entfernt, ist sein genau dem Wiener Vorbild nachempfundenes Arbeitszimmer zu sehen. Auf einer der Hinweistafeln steht aber auch, dass Freud sich in Wien nie richtig zu Hause gefühlt habe. Eine ambivalente Beziehung.
Eindeutig hat Lucian Freud mit seiner alten Heimat abgeschlossen. »Mein Vater und viele seiner Verwandten haben Deutschland vollständig aus ihrem Gedächtnis gestrichen«, sagt Esther Freud. »Sie würden niemals wieder Deutsch sprechen, sie reden nicht über Deutschland, sie würden nichts Deutsches kaufen.« Andere denken anders. »Ich korrespondiere mit einem Mann aus derselben Generation, der eine ähnliche Erfahrung gemacht hat«, erzählt die Schriftstellerin. »Ich habe einiges aus seinen Memoiren als Vorlage für Haus am Meer verwendet. Er hat eine große Zuneigung für das Land an sich, für die Bäume, die Häuser, die Flüsse und den Ort, den er liebte als Junge.« 17 sei er gewesen, als er fliehen musste. Lucian Freud war noch deutlich jünger, als er nach England kam. »Als Kind hat man keine Wahl«, sagt Esther Freud über ihren Vater. »Aber er hat
sich auf jeden Fall darauf eingelassen und er hat immer gedacht, dass er Glück gehabt habe. Wie meine Romanfigur Lambert dachte er, er sei in die beste Stadt der Welt gekommen.« Aber wie Lucians Eltern, ihre Großeltern, sich damals gefühlt hätten, in der Mitte ihres Lebens, das wisse sie nicht. »Menschen emigrieren aus guten Gründen«, sagt Esther Freud. »Deshalb setzen sie sich voll ein für ihr neues Land. Es ist dann eine echte Leidenschaft, dass es mit ihnen und dem neuen Land gut geht.«
In sein altes Land würde Lucian Freud nicht reisen. Er ist irritiert, wenn seine Tochter sich mal wieder nach Deutschland aufmacht, zum Beispiel zu einer Lesereise. »Er fragt: ›Warum in aller Welt gehst du da hin?‹ Ich kann die Reaktion meines Vaters verstehen. Er fragt mich warum, aber er würde mich nicht daran hindern.« Und was antwortet sie ihm? »Ich sage: ›Ich bin nicht sicher. Ich bin neugierig.‹« Die 44-jährige Schriftstellerin ist immer noch neugierig, obwohl sie das Land sehr gut kennt. Schon als Kind, Mitte der 70er- Jahre, kam Esther Freud für drei Monate nach Deutschland. Sie war damals zwölf und ging in der englischen Grafschaft Sussex zur Schule, auf eine Waldorfschule, ausgerichtet nach den anthroposophischen Leh-
ren Rudolf Steiners. »Es gab dort viele deutsche Lehrer, jüdische Lehrer denke ich, aber

diesen Unterschied habe ich damals nicht gemacht.«
Mit einem Schüleraustausch kam Esther Freud dann nach Ulm. »All die unglaublichen Dinge, die in Deutschland geschehen sind, kamen mir als Kind damals unendlich weit entfernt vor.« Heute kann sie ihren Vater und seine Haltung besser verstehen, denn so lange war der Holocaust zu jener Zeit dann doch noch nicht her. »Das war gerade mal die Woche zuvor, könnte man aus heutiger Sicht sagen. Aber ich war drei Monate in Ulm und habe daran nie gedacht. Ich habe jedoch auch nicht viel über die deutsche Geschichte gewusst damals.«
In ihrer Schule in England hat sie nicht viel darüber erfahren. »Vielleicht lag das daran, dass so viele Lehrer Deutsche waren.« Aber in der Erziehung an den Steiner-Schulen in England gäbe es ohnehin viele Lücken. »Es gibt viele Dinge, die ich dort nicht gelernt habe. Wir haben viel antike Geschichte gemacht. Nach Christi Geburt wurde es sehr ruhig«, sagt Esther Freud und lacht. »Was sie an den Steiner-Schulen versuchen, ist, ihnen kein Wissen aufzuzwingen, nur um zu zeigen, dass man etwas gelernt hat. Sie wollen, dass sie mit Ihrer eigenen Geisteskraft herausfinden, für was sie sich interessieren, dass sie mit Ihrer eigenen Persönlichkeit lernen, wie man lernt.« Bei ihrer späteren Arbeit, zunächst als Schauspielerin am Theater, dann als Schriftstellerin, habe ihr diese Haltung sehr geholfen. »Ich sagte mir: Wenn ich etwas über die Geschichte wissen möchte, dann finde ich das heraus, indem ich in die Bibliothek gehe. Ich habe niemals gedacht: Oh, ich bin dumm.«
Geschichte spielt eine wichtige Rolle in Esther Freuds Romanen. Jedes Buch ist auch für die Autorin selbst ein Lernprozess. »Bevor ich Sommer in Gaglow schrieb, wusste ich nur wenig über den Ersten Weltkrieg. Am Ende des Buchs hatte ich den Eindruck, ich weiß sehr, sehr viel, alles, was ich wissen müsste.« Über den Zweiten Weltkrieg hatte sie bereits eine Menge durch Theaterstücke gelernt. »Durch meine Bücher und Memoiren, die ich zugesandt bekam, erfuhr ich dann noch mehr über diese Zeit.« In ihrem Roman Haus am Meer steht das Schicksal der deutschen Juden noch im Mittelpunkt. In Liebe fällt ist es immer noch wichtig, aber nicht mehr so im Vordergrund. »Es war, als ob Haus am Meer von Sommer in Gaglow hervorgebracht wurde. Die Recherchen für Sommer in Gaglow hatten mich auf die Lebensgeschichten der nächsten Generation gebracht.«
Da hatte sie nun also »all diese wunderbaren Informationen, meist persönliche Dokumente«, die sie verwenden wollte. Doch die Geschichte von Liebe fällt – eine Tochter geht mit ihrem Vater, den sie kaum kennt, auf Italienreise – wäre fast ohne den Emigrationshintergrund ausgekommen. »Ich habe das Thema mehr oder weniger hineingeworfen. Ich fragte mich dann sogar, ob ich nicht zu viel davon verwendet habe. Brauche ich das wirklich? Aber es schien wunderbar zu funktionieren, dass die Hauptperson Lambert dieses Geheimnis hat. Man hätte sicher einen anderen Hintergrund verwenden können. Aber hier war etwas, mit dem ich mich auskannte, etwas, das zu mir gehört.« Sie habe sich zwar Sorgen gemacht, ob sie das Thema nicht zu sehr strapaziere. Doch dann dachte sie: Es macht nichts, das einzig Wichtige ist, dass das Buch funktioniert.
Wie schon zuvor in Esther Freuds Büchern wird aus der Perspektive einer Heranwachsenden erzählt. Ihr Vater Lucian musste als Kind emigieren. Sie selbst ging als kleines Mädchen für eine Zeit in das Land, das ihren Vater zur Flucht gezwungen hatte. Können Kinder solche Hintergründe überhaupt begreifen? »Meine Tochter ist jetzt neun«, sagt Esther Freud. »Sie ist auf einer Schule mit vielen jüdischen Kindern. Sie wollten dort den Zweiten Weltkrieg durchnehmen. Auch wenn es dabei zunächst nicht um den Holocaust ging, machten sich viele Eltern Sorgen, dass ihre Kinder mit dem Thema so früh überfordert würden.« Ihre Tochter hat dann einiges über den Krieg gelernt, die Klasse sei zum Beispiel im Imperial War Museum in London gewesen. Die Tochter weiß aber trotzdem noch nicht allzu viel über das Thema. »Mein Sohn ist zwölf. Er weiß darüber Bescheid. Auch, weil er gern Romane liest und daraus vieles lernt.« Andererseits ist Esther Freud der Auffassung, man solle die nächsten Generationen nicht überlasten mit dem Thema. »Hilft das überhaupt? Die Leute wissen von schrecklichen Dingen, schreckliche Dinge geschehen trotzdem wieder.«
Einen umstrittenen Vorschlag von Präsident Nicolas Sarkozy hält sie aber nicht grundsätzlich für falsch. Sarkozy hatte angeregt, dass sich jedes französische Schulkind mit der Lebensgeschichte eines im Holocaust getöteten Kindes beschäftigen sollte. »Vielleicht macht es die Menschen in Frankreich verständnisvoller für die Dinge, die in Algerien passiert sind.« Es sei viel besser, wenn jedes Kind verstünde, was Algerien in der Kolonialzeit habe durchmachen müssen. Was vielen Menschen zugestoßen ist, die heute in ihrem Land, in Frankreich, lebten. »Ich meine nicht, dass sie nicht über das andere auch Bescheid wissen sollten. Aber es ist doch so einfach zu sagen: Das ist damals passiert. Und sich dann unschuldig zu fühlen für das, was heute im Irak geschieht oder in Darfur.«

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