Fanatismus

Heiliger Wahnsinn

von Rabbiner Baruch Rabinowitz

Die Geschichte von der Akeda, der »Bindung Isaaks« spielt eine zentrale Rolle im Judentum und hat auch einen sehr wichtigen Platz in der christlichen Theologie. Abraham bekommt einen schwer nachvollziehbaren Befehl: Er soll seinen geliebten Sohn Isaak auf dem Berg Moriah opfern, als Beweis seiner Treue und seines Glaubens an Gott.
Die traditionellen Kommentare loben Abraham für seine Selbstlosigkeit und die Bereitschaft, sogar sein eigenes Kind umzubringen, wenn es von Gott so verlangt wird. Aber ist seine Bereitschaft wirklich so lobenswert? Glaubte Abraham an einen Gott, der einem Vater befehlen würde, sein eigenes Kind zu töten, auch wenn es nur ein Test gewesen sein sollte? War der jüdische Stammvater so sehr im Gotteswahn und so fanatisch, daß er eine solch obszöne Tat überhaupt in Erwägung zog?
Warum hörte Abraham auf die Stimme, die ihm befohlen hatte, seinen Sohn zu opfern? Vielleicht sollte der Patriarch an dieser Stelle Nein sagen. Denn ein solcher Befehl konnte auf gar kein Fall von dem Gott stammen, von dem er predigte. Zudem mußte Abraham, um diesen Plan durchzuführen, unehrlich handeln. Er erzählte keinem von seinen Absichten. Sein Sohn, um dessen Leben es dabei ging, erfuhr von des Vaters eigentlichem Vorhaben erst, als sie den weitentfernten Ort erreicht hatten und eine Flucht wohl nicht mehr möglich war. Auf die Frage »Und wo ist das Lamm für das Opfer?« gibt Abraham die Antwort: »Gott wird sich ersehen das Lamm zum Opfer, mein Sohn!« (1. Buch Moses, 22,8). Seine Frau Sarah erfuhr von dem Plan erst, als schon alles vorbei war.
War es Rache, daß Sarah Abrahams Sohn Ismael und dessen Mutter Hagar in die Wüste fortjagte? Wollte Abraham seine Macht zeigen oder handelte er wirklich nur aus religiösem Eifer? Die Tora erzählt diese Geschichte sehr vorsichtig. Noch vorsichtiger sind die Gelehrten, die sie kommentierten.
Wenn wir uns die Geschichte der Akeda genau anschauen, werden wir feststellen, daß Abraham für seinen Eifer einen sehr hohen Preis bezahlen mußte: seine Familie. Obwohl er Isaak physisch nicht tötete, endete die Beziehung zwischen ihm und seinem Sohn. Sie wurde Opfer des religiösen Eifers Abrahams, seines Egoismus und seiner Unehrlichkeit.
Die Tora wiederholt dreimal, daß die beiden gemeinsam den Berg hinaufgingen. Danach stieg Abraham allein wieder herab. Isaak sollte seinen Vater, der sein Vertrauen gebrochen hatte, nie mehr wiedersehen. Er verlor auch seine Mutter. Denn Sarah starb, als sie erfuhr, was auf dem Berg Moriah geschehen war.
Die Tora widmet Isaak, dem zweiten Patriarchen, danach nur einen sehr bescheidenen Platz. Nach der Begegnung mit dem Tod konnte Isaak nicht mehr viel mit sich selbst anfangen. Er führte ein rückwärts gewandtes, passives Leben – ein Leben, das den Moment auf dem Altar widerspiegelte. Dort hatte er gelegen, gefesselt, stumm und voller Schrecken. Und so lebte er auch weiter. Er reiste nicht in die Ferne, um für sich eine Frau zu finden. Das tat Eliezer, der Knecht seines Vaters, für ihn. Er heiratete Rebekka, ein Mädchen, das ihm einfach zugeführt wurde. In den Streit zwischen seinen Söhnen mischte er sich nicht ein. Er hatte sogar Angst, seiner Familie bekanntzugeben, daß er den älteren und nicht den jüngeren Sohn vor seinem Tod segnen wolle.
Der Midrasch erzählt, daß Isaak viel zu früh alterte und gebrechlich wurde. Das, was Isaak auf dem Berg erlebt hatte, war sehr schmerzvoll. Obwohl er wahrscheinlich physisch nicht verletzt wurde, so waren die seelischen Wunden doch sehr tief. Sie verheilten nie. Ganz gleich, wie wichtig es in Abrahams Augen war, Gottes Willen zu erfüllen: Die Bereitschaft seines Vaters, ihn zu opfern, verwand Isaak nie.
Das Traurigste an der Geschichte ist, daß Abraham nie versuchte, seinem Sohn die Handlungsweise zu erklären. Isaaks Wunden wurden nie behandelt, seine Ängste nie geheilt, die Beziehung zwischen dem Vater und dem Sohn nie wiederhergestellt.
Vielleicht wäre es Abrahams Aufgabe gewesen einzugestehen, daß er in seinem religiösen Eifer einen Fehler gemacht hatte. Vielleicht war es das, was Gott von Abraham in Wirklichkeit erwartet hatte: Ein klares Nein zu so einem brutalen, unmenschlichen Befehl. Vielleicht war dies ein frühes Beispiel und eine Warnung davor, wie gefährlich eine von Fanatismus geprägte Religion sein kann. Mag sein, daß Abraham dies alles verstanden, dem Isaak jedoch nie erklärt hatte.
Auch wir können die Herzen derjenigen verletzen, die wir am meisten lieben. Unsere Taten haben eine tiefgreifende Wirkung, die weit über den Moment der aktuellen Begegnung hinausreicht. Wir müssen uns unserer Taten bewußt sein und verstehen, daß sie manchmal unauslöschliche Eindrücke im Verstand, im Herzen und in der Seele derer hinterlassen, die von unserer Tat betroffen sind.
Sicherlich war die fast vollendete Opferung Isaaks keine geringe Tat, sondern das Extremste, was ein Vater seinem Sohn antun kann. Aber unsere Taten müssen nicht ein solches Ausmaß erreicht haben, um Spuren zu hinterlassen. Wenn wir unsere Kinder, Eltern, Partner oder unsere Freunde ignorieren oder mißhandeln, wenn wir unempfindlich gegenüber dem Bedürfnis anderer sind, wenn wir uns unfreundlich, grausam oder gleichgültig verhalten, so hinterlassen wir Schmerzen und Verletzungen. Diese Taten, ob klein oder groß, haben oft langanhaltende Wirkungen.
Es ist wohl sicher, daß jeder von uns, wenn er in der eigenen Erinnerung zurückgeht, ein besonders schmerzhaftes Erlebnis finden kann, einen Moment von tiefem Leid, der unvergeßlich ist und unsere Verhaltensmuster und emotionalen Reaktionen seither geprägt hat. Vielen von uns wurden als Kinder Wunden zugefügt, – gefühlsmäßig, psychisch oder physisch. Manche sind von ihren Eltern oder Geschwistern entfremdet. Viele sind traumatisiert worden und sind Erben dieses »Messers im Herzen«.
Es ist wichtig sich daran zu erinnern, daß wir nicht allein im Universum leben. Wir sind miteinander verbunden, ob durch Liebe, Zuneigung, Abneigung, oder gar Haß. In jedem Fall müssen unsere Beziehungen mit Sorgfalt behandelt werden. In der Bibel wird gesagt: »Die Taten der Eltern sind ein Zeichen für die Kinder.« Unsere oft egoistisch, unverantwortlich oder gleichgültig begangenen Taten sind kleine Zellen, die sich weiterentwickeln. Es kann sein, daß sie sich in der Konsequenz erst in der nächsten oder in den übernächsten Generationen auswirken werden.
Was wir jetzt tun, beeinflußt die Zukunft. Das soll aber nicht heißen, daß nur das Übel, das man begeht, große Auswirkungen hat. Das Wohl, das wir in der Welt bewirken, fällt gleichermaßen stark ins Gewicht. Eine Tat der Liebenswürdigkeit, ein Moment der Empfänglichkeit, des Verzeihens oder der Reue, eine verantwortungsbewußte Handlung, sind unschätzbar wertvoll.

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