Maskerade

Geschminkte Wahrheit

von Rabbiner Julian C. Soussan

In der Tora kommt es einige Male vor, dass Szenen sich Generationen später wiederholen. Eine solche Standardszene stellt beispielsweise die Begegnung zwischen einem Mann und einer Frau an einem Brunnen dar: Abrahams Knecht Elieser trifft Riwka, Jakow trifft Rachel und Mosche trifft Zipora. Obwohl all diese Begegnungen zu Hochzeiten führen (was zu der Annahme führen könnte, dass Gemeinden sich unbedingt einen Wasserspender anschaffen sollten), unterscheiden sie sich bezüglich der Aussagekraft ihrer Protagonisten. Hier ist es Riwkas Handlungsbereitschaft, da erleben wir die Kraft Jakows, und schließlich wird der Gerechtigkeitssinn Mosches erneut verdeutlicht. Wie man sich am Brunnen zu Fremden verhält, lässt einen Rückschluss auf den Charakter zu.
Auch in unserem Wochenabschnitt erleben wir eine Standardszene: »Josef aber war Herr im Lande … Und die Brüder Josefs kamen vor ihn und warfen sich vor ihm mit dem Angesicht zur Erde nieder … Josef also erkannte seine Brüder, sie aber erkannten ihn nicht.« (1. Buch Moses 42,6-9) Es gibt noch andere Stellen in diesem Buch, an denen sich Personen begegnen, aber eine von ihnen für eine andere gehalten wird, als sie ist.
Das erste Mal erleben wir dies, als der mittlerweile blinde Jitzchak seinen Sohn Jakow für dessen Bruder Essaw hält. Hier besteht die Maskerade sogar aus Fellhandschuhen, es werden also gezielt Hilfsmittel eingesetzt, um das Gegenüber zu täuschen. Eben dieser Jakow wird nun selbst überlistet, als er nämlich seine verschleierte Braut, die er für Rachel hält, ins Zelt führt. Am nächsten Tag stellt er fest, dass es sich um ihre Schwester Lea handelt. Die dritte Szene ist weniger bekannt. Es handelt sich um Jehuda, der drei Söhne hat. Der Älteste heiratet Tamar und stirbt. Wie es die sogenannte Leviratsehe vorsieht, heiratet sie nun, da sie kinderlos ist, der zweite Bruder. Doch der will keine Kinder mit ihr zeugen, wird von Gott bestraft und stirbt. Jehuda jedoch verweigert Tamar den dritten Sohn – wohl aus Angst, es könne auch ihm etwas zustoßen. Nach einigen Jahren verkleidet sich Tamar als Buhlerin und teilt mit Jehuda das Lager, ohne dass dieser merkt, wer die Frau ist. Sie legt ihn herein, damit er die Pflicht des jüngsten Sohnes erfülle, den er ihr verweigert hatte.
Es drängt sich die Frage auf, ob diese Verkleidungen sich gelohnt haben? Kurzfristig würden wir sagen: Ja. Tamar wird tatsächlich schwanger, aber »er (Jehuda) wohnte ihr ferner nicht bei«, die erhoffte Ehe oder gar Liebe bleibt aus. Ebenso bei Lea. Sie verhindert zwar, ledig zu bleiben, aber Jakow liebt sie nicht. Und Josef? Er erfüllt zwar seine Träume, die ihn ursprünglich mit seinen Brüdern entzweiten. Sie beugen sich tatsächlich vor ihm nieder, doch sie fürchten sich vor ihm. Als Jakow stirbt, haben sie Angst, er könne nun all das Böse, dass sie ihm antaten, vergelten. Liebe also scheint man durch Verkleidung nicht erreichen zu können.
Gleichzeitig aber stellen wir fest, dass Gott sich um diese vier Personen kümmert. Es gelingt ihnen, die Menschen durch ihre Verkleidung zu täuschen, und sobald diese fällt, kehrt das ursprüngliche Bild wieder an die Stelle der Maske. Vor Gott jedoch kann man sich nicht maskieren, er sieht direkt in uns hinein. Jakow, Lea, Tamar und Josef haben sich nicht aus Bösartigkeit maskiert, nicht um einen Streich zu spielen oder sich persönlich zu bereichern. Sie haben es getan, um etwas Gutes und Gerechtes zu bewirken. Gott erkennt das, da er die wahre Motivation sieht. Die Menschen jedoch, die selbst unsere Gesichter als eine Form der Maskierung unseres Inneren erleben, sind schwerer zu überzeugen.
Dies ist denn auch einer der Zusammenhänge zwischen Jom Kippur und Purim. Während wir an Purim an unseren Feind Haman erinnern, stehen wir an Jom ha-ki-Purim selbst im Scheinwerferlicht. Eines der Verbote ist, sich zu salben; am höchsten Fasttag treten wir ungeschminkt vor Gott. Seine Prüfung wird sich nicht durch Äußerlichkeiten beeinflussen lassen. An Purim hingegen geht es um Verdrehen und Umkehrung. Hier geht es um den Umgang mit Menschen. Der Antisemit, der Feind, dem man nicht trauen kann, die Maske, die Freundschaft nur vorspielt. Die eigene Verstellung, die aber nicht in Hass umschlagen darf: Am Ende sollen wir vor lauter Alkoholgenuss den Unterschied zwischen Haman und Mordechai nicht mehr ausmachen können. Im Umgang miteinander mag die Maske, wenn positiv eingesetzt, Vorteile bringen, Freunde jedoch schafft sie nicht.

Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf.

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