Biografie

Gegen die Freiheitsmüdigkeit

von Christian Möckel

Auf eine gründlich recherchierte Biografie des bedeutenden Kulturphilosophen Ernst Cassirer haben wir lange warten müssen. Die an der Universität Hamburg besorgte Gesamtausgabe seiner Schriften (ECW) ist abgeschlossen, die an der Humboldt-Universität zu Berlin vorbereitete Nachlassausgabe (ECN) weit fortgeschritten. Thomas Meyer, promovierter Philosoph, Research Fellow am Rosenzweig Center in Jerusalem und – auch den Lesern dieser Zeitung bekannter – Publizist, hat mit seiner kürzlich vorgelegten Biografie dieses Warten nicht nur beendet, sondern viele Erwartungen auch erfüllt. Der Autor, der sich des notwendigen Spagats zwischen wissenschaftlichem Anspruch und populärer Darstellung bewusst ist, hat ein aufschlussreiches und gut lesbares Werk über den Menschen und den Philosophen Ernst Cassirer vorgelegt, das weder aus seiner Sympathie für diesen einen Hehl macht, noch sich zu unkritischer Bewunderung verführen lässt.
Am Beispiel eines markanten Einzelschicksals erfährt der Leser viel über die untergegangene Welt der deutsch-jüdischen Kultur des ausgehenden 19. Jahrhunderts, über das akademische Leben an den deutschen Universitäten und über die »deutsch-jüdische Intellektuellengemeinschaft«. Meyer erschließt uns eine ungewöhnliche Persönlichkeit, die sich die Freundschaft anderer außerordentlicher Menschen wie Kurt Eisner, Albert Einstein oder Aby Warburg erwirbt, die in schwerer Zeit Freunden und Kollegen selbstlos beisteht und die diesen Beistand selbst erfährt. Der philosophisch interessierte Leser findet darüberhinaus eine originelle Einführung und erfrischend kritische Kommentierung der zahlreichen Werke Cassirers und seiner theoretischen Konzepte, insbesondere der auf den Funktions- und Symbolbegriff gründenden Wissenschafts- und Kulturphilosophie. Selbst für die Cassirerforscher hält diese Biografie eine große Zahl bislang nicht bekannter Fakten aus dem akademischen und familiären Leben des Philosophen bereit. Dies betrifft etwa sein viel diskutiertes Verhältnis zu Martin Heidegger, dem philosophischen Gegenspieler der 20er-Jahre. Meyer kommt aufgrund seiner detaillierten Recherchen zu dem Schluss, dass Cassirer Heidegger zwar scharf und grundsätzlich widerspricht, ihn bis 1933 aber mehr als bislang zugestanden schätzt und würdigt. Außerdem enthält das Buch eine Reihe beherzt formulierter philosophischer Thesen. So besteht Meyer nachdrücklich auf einem nie versiegenden philosophischen Einfluss, den der 1918 gestorbene Lehrer Hermann Cohen und dessen Marburger Neukantianismus auf Cassirer und seine großen konzeptionellen Entwürfe ausgeübt habe. Während über die zeitlebens anhaltende Verehrung für Cohen kein Zweifel besteht, wird die Frage, inwieweit man den Philosophen der »symbolischen Formen« der Cohen’schen Weise des Philosophierens noch zurechnen kann, in der Forschungsliteratur allerdings unterschied- lich beantwortet.
Weder die von Meyer faktenreich beschriebenen Lebensstationen (Breslau, Marburg, München, Berlin, Hamburg, Oxford, Göteborg, New Haven und New York) noch die von ihm ausgewerteten Hauptwerke Cassirers können an dieser Stelle resümiert werden. Vielmehr sollen einige zentrale Aussagen zu Bedeutung von Person und Werk Cassirers zur Sprache kommen. Die Biografie nennt den ersten Ordinarius für Philosophie an der 1919 gegründeten Hamburgischen Universität den »führende(n) Philosoph(en) der Weimarer Republik«. Das Grundanliegen Cassirers sieht Meyer als auf die geistige Selbstbefreiung des Menschen durch sein kulturstiftendes »Tun« gerichtet. Kultur ist für Cassirer dabei ein einheitliches Ganzes unterschiedlicher, durch symbolische Tätigkeit geschaffener Sinnwelten, durch die der Mensch sich selbst in die Lage versetzt, sein Leben durch Willensentscheidungen frei und verantwortlich zu führen. Damit ist er nicht mehr dem unhinterfragbaren Schicksal ausgeliefert oder alternativlos in sein vegetatives Leben eingebunden. Diese emanzipatorische Funktion der Kultur sieht Cassirer seit den 20er-Jahren zunehmend be- droht sowohl durch den »Wiedereinbruch« des mythischen Denkens in Philosophie und Politik als auch durch eine um sich greifende Vernunftskepsis, durch eine Müdigkeit an der Freiheit und der von ihr geforderten Eigenverantwortung jedes Einzelnen. Mit dem Werk über Die Philosophie der Aufklärung veröffentlicht er 1932 eine Verteidigungsschrift gegen ihre Verächter. Meyer verhehlt aber auch nicht, dass für ihn der Cassirer’sche Philosophiebegriff merkwürdig unbegründet bleibt.
Überzeugend wird herausgearbeitet, dass Cassirer entgegen manchem Anschein ein zutiefst politischer Mensch war, der weniger über politische Belange redete als vielmehr handelte und sich engagierte. Richtig ist aber auch, dass die politische Haltung Cassirers oft nicht leicht zu rekonstruieren ist. So findet man 1914/18 »weder in seinen Publikationen noch in seiner Korrespondenz (...) präzise Ausführungen zum Krieg«. Durch sein Werk Freiheit und Form (1916) ist jedoch belegt, dass er als einer der wenigen deutschen Intellektuellen »demokratisches Denken im Krieg« propagierte. Gewiss darf Meyer zugestimmt werden, dass der mit der Deutschen Demokratischen Partei sympathisierende Cassirer als der bedeutendste Philo- soph anzusehen ist, der sich ohne Vorbe- halt und aus guten philosophischen Gründen zur Weimarer Republik als seiner politischen Heimat bekannte. Die größte öffentliche Wirkung erzielt der »Vernunftre- publikaner« und Demokrat durch die Reden zum Verfassungstag 1928 und 1930, die er im Auftrag des Hamburger Senates bzw. als Universitätsrektor hält.
Meyers »Lebensbild« beantwortet wohl bislang am detailliertesten die Frage nach Cassirers Haltung zum Judentum, wobei er wiederum den Einfluss Cohens hervorhebt. So sei etwa das für das Kriegsjahr 1916 nachweisliche Begreifen des »Verhältnis(ses) von Deutschen und Juden« als eines äußerst fragilen »zutiefst von Cohens Blick (...) geprägt«. Der im Krieg ausgerufene »Burgfriede« zwischen allen Deutschen gilt nicht für die Juden; auch im akademischen Milieu wird Cassirer immer wieder mit Antisemitismus konfrontiert. Mit ihm wird 1929/30 erst der vierte jüdische Deutsche in das Rektorenamt einer Universität gewählt.
Mit den religiösen und philosophischen Wurzeln und Formen des Judentums hat sich Cassirer nicht erst in Zeiten existenzieller Bedrohung befasst. Cassirer, der am intellektuellen jüdischen Leben schon als junger Gelehrter teilhat, wirkt von 1919 (Gründung) bis 1934 (Schließung) als Mitglied des Vorstandes der Berliner »Akademie für die Wissenschaft des Judentums« und wird, ebenfalls 1919, ins Kuratorium der Berliner »Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums« gewählt, eine Funktion, die er bis zu ihrem Verbot 1942 wahrnimmt, auch in den Zeiten der Emigration. Da für den weitsichtigen Denker »nach kurzer Zeit kein Zweifel (besteht), dass es die Nationalsozialisten (...) ernst meinen«, verlässt die Familie bereits im März 1933 Deutschland.
In seinem »politisch-philosophischen Vermächtnis«, dem 1946 posthum erschienen Werk über den Mythus des Staates, lokalisiert Cassirer die Grundlage des totalitären Führerstaates im Einbruch eines neuen mythischen Denkens in die moderne rationale Kulturwelt, was insofern verstörend wirkt, als gemäß der Cassirer’schen Philosophie die expressive Emotio- nalität (Ausdrucksfunktion) als Quelle des Mythischen zum anthropologischen Grundbestand des Menschen gehört. Das »Gegengift« zum Mythos sieht er – mit Cohen – in Ethik und Religion (Monotheismus) der antiken Griechen und Juden. Doch immer, so heißt es im Mythus des Staates, wenn die intellektuellen und moralischen Kräfte ihre Stärke verlieren, »beginnt das mythische Denken sich von neuem zu erheben und das ganze kulturelle und soziale Leben des Menschen zu durchdringen.«

thomas meyer: ernst cassirer
Ellert & Richter, Hamburg 2006, 296 S., 19,95 €

Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Ernst-Cassirer-Nachlassedition an der Humboldt-Universität Berlin.

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