Irrfahrt

Die Teheran-Kinder

von Jutta Vogel

Mit zittrigen Fingern versucht der fein-gliedrige Mann, eine DVD in seinen Computer einzulegen. Er weiß, wie das moderne Gerät funktioniert, aber seine Hände wollen nicht so wie er. Josef Rosenbaum ist nicht mehr der Jüngste. Dennoch bringt ihn das kleine Alltagsproblem nicht aus der Ruhe. Dafür hat er einfach schon zu viel erlebt. »Darf ich?«, fragt seine Frau Rina mitfühlend und bietet mit einem liebevollen Lächeln ihre Hilfe an. Erst, als Josef nickt, drückt sie den Startknopf. Sofort erfüllen Kriegsgeräusche das kleine Appartement in Tel Aviv. Ein Bombenangriff ist zu hören, Schüsse, die schnellen Schritte fliehender Menschen.
70 Jahre lang hat Josef geschwiegen, hat die Erinnerungen an die schlimmste Zeit seiner Kindheit tief in seinem Inneren verborgen. Doch schon die ersten Szenen, die jetzt vor ihm über den Bildschirm flimmern, lassen das Grauen wieder lebendig werden. Josef Rosenbaum ist einer der fünf Protagonisten der Fernseh-Dokumentation Die Odyssee der Kinder, die das bislang unbekannte Schicksal Tausender jüdischer Kinder aus Deutschland und Polen schildert, die vor dem mörderischen Terror der Nazis fliehen mussten. Nur einige Hundert überlebten und erreichten nach jahrelanger Irrfahrt 1943 das »Gelobte Land«.
Josef ist sieben Jahre alt, als er eines Tages mitten im Schulunterricht nach Hause geschickt wird. Dort erwartet ihn die verzweifelte Mutter: »Wir müssen fort, jetzt gleich!« Mina Rosenbaum drückt ihrem Sohn die kleine Tochter Nelly in den Arm, greift selbst zu ihrer Tasche. Nach der »Machtergreifung« Hitlers zählt sie zu den von den Nazis zunehmend schikanierten »Ostjuden« und wird mit ihren Kindern und 17.000 anderen Juden im Rahmen der »Polen-Aktion« im Herbst 1938 über Nacht völlig unvermittelt abgeschoben. Sie verliert damit nicht nur ihre Kölner Heimat und ein gepflegtes Zuhause, in dem sich Freunde und Familie regelmäßig um das große Grammophon versammeln und gemeinsam feiern. Auch der Kontakt zu ihrem Mann reißt für immer ab. In Anbetracht der in Deutschland um sich greifen- den Diskriminierung bereitet er in New York die Übersiedlung seiner Familie vor. Auch die älteste Tochter, die sich bei Verwandten in Antwerpen aufhält, wird sie nicht wiedersehen. Josef, der Blondschopf mit den blauen hellwachen Augen, mit dem verschmitzten Lächeln und den leicht abstehenden Ohren, erlebt eine traumatische Fahrt im Viehwaggon zur deutsch-polnischen Grenze, eingepfercht zwischen verstörten Erwachsenen und weinenden Kindern.
»Die Zugfahrt schien mir endlos, und es war bitterkalt. Danach haben wir wochenlang in einem Auffanglager im Niemandsland festgesessen«, erzählt er, »bis wir uns endlich nach Przeworsk zu den Eltern meines Vaters durchschlagen konnten.« Nach dem Überfall der Deutschen auf Polen flieht die Familie in den russisch besetzten Teil des Landes. Aber auch Hitlers sowjetische Bündnispartner haben für die Flüchtlinge kein Mitgefühl. »Man hat uns wieder in Viehwaggons zusammengedrängt und in die berüchtigten Arbeitslager geschafft. Es waren Tausende von Menschen um uns herum, keiner wusste, wie ihm geschah.«
Josefs Familie landet bei Archangelsk, hoch oben im Nordwesten Russlands, inmitten endloser Wälder. Fast neun Monate herrscht hier tiefster Winter und mörderische Kälte. Frauen und Kinder, die nicht arbeiten können, erhalten nur 30 Gramm Brot am Tag. Mina Rosenbaum versetzt zuletzt sogar ihren Ehering für eine winzige Zusatzration, dennoch stirbt sie Anfang 1941 an Unterernährung in Josefs Armen. »Pass gut auf Nelly auf, ihr beide müsst leben«, sind ihre letzten Worte an den Sohn. Josef ist nun allein verantwortlich für die fünfjährige Schwester. »Ich war noch keine zehn Jahre alt und fühlte mich wie ein alter Mann.« Auch in der Geborgenheit seiner sonnigen Wohnung in Israel schluckt Josef Rosenbaum noch schwer, wenn er sich an den Tod der Mutter erinnert.
Hitlers Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 bedeutet für die polnischen Häftlinge die Freiheit. »Aber wo sollte ich hin mit Nelly? Wir sind einfach dem Strom der Menschen nach Süden gefolgt.« Die großen Zuglinien führen die Flüchtlinge nach Taschkent. »Hier waren Hunderttausende auf den Straßen und kämpften ums Überleben. Mit Betteln, Stehlen und Wühlen im Müll habe ich versucht, für Nelly und mich etwas Essbares zu organisieren. Aber es war vergebens.« Als Josef seine Schwester eines Morgens aufwecken will, ist sie tot, verhungert im Schlaf.
Josef selbst ist dem Tode nah, als er in ein Hospital geschafft wird, wo er seit langer Zeit zum ersten Mal wieder ein richtiges Bett und regelmäßiges Essen bekommt. Hier hört der Junge von einem Waisenhaus, dessen Kinder angeblich nach Persien gebracht werden sollen. »Ich dachte, Persien liege nah bei Amerika.« Heute muss Josef darüber schmunzeln. Aber damals beherrschte ihn nur ein einziger Gedanke: »Ich will zu meinem Vater – deshalb muss ich mit!« Er stiehlt sich aus dem Krankenhaus und kann sich tatsächlich in das Waisenhaus einschmuggeln.
In der Region Taschkent hat sich inzwischen die sogenannte Anders-Armee gesammelt, die in Afrika gegen Feldmarschall Rommel kämpfen will. Ihr Weg dorthin wird sie über Persien führen. Mit ihr sollen 24.000 zivile Flüchtlinge aus humanitären Gründen aus dem Kriegsgebiet evakuiert werden. Aber auch jetzt holt der Antisemitismus die jüdischen Vertriebenen ein: Nur rund 1.000 von ihnen, vor allem Waisenkinder, schaffen es, auf diese Weise der Verfolgung zu entkommen und später von der persischen Hauptstadt aus nach Palästina zu gelangen. In Israel nennt man sie heute die »Teheran-Kinder«.
Eines von ihnen ist Josef Rosenbaum, der Junge aus Köln, der in den kommenden 65 Jahren kein einziges Wort Deutsch sprechen wird. Was er hat erleiden müssen, werden seine Kinder und Enkelkinder erst jetzt erfahren, wenn die ganze Familie zur Premiere von Die Odyssee der Kinder nach Berlin reisen wird. »Ich habe ihnen nie von meinen Erlebnissen erzählt«, bekennt Rosenbaum. »Ich wollte sie nicht damit belasten.« Doch nun ist die Zeit reif für ihn, das Schweigen zu brechen.
Einen anderen Weg, die schrecklichen Erfahrungen von Verfolgung und Flucht zu verarbeiten, ist Rachel Gera gegangen. Die schmale Frau mit langen blonden Haaren ist bewusst kinderlos geblieben: »Ich habe an meiner Mutter erlebt, wie viel Verantwortung ein Kind bedeutet, davor hatte ich Angst. Denn ich weiß nicht, ob ich fertiggebracht hätte, was sie geschafft hat.«
Die Fingernägel leuchtend rot lackiert, trägt die charmante 72-jährige Künstlerin einzigartige, selbst gefertigte Silberringe an den gepflegten Händen. Wer sie heute erlebt, wenn sie freundlich und herzlich über ihre Arbeit spricht, kann nicht ahnen, dass die Wurzel ihres künstlerischen Schaffens in den traurigsten Stunden ihres Lebens liegt.
Als Rachel Steinberg wird sie 1936 in Tel Aviv geboren, Kind wohlhabender polnischer Emigranten. Sie hat gerade ihren dritten Geburtstag gefeiert, als ihre Mutter Judit Steinberg dem Drängen der polnischen Verwandten nachgibt: »Alle wollten doch endlich das kleine Mädchen sehen«, schmunzelt Rachel. »Also ist meine Mama mit mir nach Polen gereist.« In der alten Heimat Sosnowiec wird Rachel von den fünf Schwestern und dem Bruder der Mutter verwöhnt. Bis der Krieg ausbricht. »Nur meine Mutter erkannte die Gefahr und ist mit mir auf die russisch besetzte Seite des Landes geflohen. Alle anderen Familienangehörigen sind in der fatalen Annahme geblieben, dass ihnen als gut situierten Bürgern nichts zustoßen könne.« Rachel ringt um ihre Fassung und fügt mit beinahe erstickter Stimme hinzu: »Keiner von ihnen ist am Leben geblieben.«
Zunächst retten sich die beiden nach Lemberg, wo sie in einer verlassenen Wohnung unterkommen. Dort erlebt Rachel das, was sie heute als den Wendepunkt ihres Lebens bezeichnet: Bei einem Einbruch durchkämmen die Banditen auf der Suche nach Beute auch den letzten Winkel des Hauses und fördern dabei eine Handvoll Buntstifte zutage: »Rote, grüne, gelbe, blaue Stifte… Das war der Moment, in dem die Kunst in mein Leben kam. Von diesem Augenblick an habe ich gemalt!«
Gefangennahme durch die Russen, Lageraufenthalt, Ankunft in Taschkent und die Hoffnung auf eine Ausreise mit der Anders-Armee – die Geschichten von Josef und Rachel ähneln einander. Angst und Verzweiflung wurden den Kindern ständige Begleiter.
»Wie eine Löwin« hat Judit Steinberg versucht, ihre Tochter zu beschützen. Doch sie werden getrennt. In allerletzter Sekunde stößt die Mutter Rachel in einen abfahrenden Zug, der sie nach Persien bringen soll, um wenigstens das Kind zu retten. Die Sechsjährige ist lediglich mit einem Brustbeutel ausgestattet, in den die Adresse des Vaters in Tel Aviv eingenäht ist. »Meine Mutter blieb zurück, ich sah sie kleiner und kleiner und kleiner werden ...« Auch heute kann sie diese Episode aus ihrem Leben nur unter Tränen erzählen.
In Persien vergehen Monate mit diplomatischem Tauziehen, bevor die Weiterreise nach Palästina gesichert ist. In dieser Zeit sind die jüdischen Flüchtlingskinder erneut in einem Lager untergebracht, wo Rachel ein wunderbares Wiedersehen mit ihrer Mutter erlebt. Judit Steinberg hat in Taschkent einen jungen Soldaten bestochen, der sie als angebliche Ehefrau mit auf den Zug nach Persien nimmt. »Ich habe damals geglaubt, dass mir meine Fantasie einen Streich spielt«, erinnert sich Rachel.
Auch nach ihrer Rückkehr nach Palästina und zum Vater bleibt die Kunst Rachels Kraftquelle. Sie zählt heute zu den bekanntesten Künstlerinnen Israels. Ihre Wohnung in einem der für Tel Avivs Altstadt typischen Sandsteinhäuser ist Treffpunkt für Maler und Designer aus aller Welt. Jedes ihrer imposanten Schmuckstücke spiegelt für sie ein Stück Lebensfreude. Und mit einem charmanten und weisen Lächeln spricht die zarte Frau das Geheimnis ihres starken Willens aus: »Ich setze das Schöne dem Bösen dieser Welt entgegen.«

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