Plakatsammlung

Das Ende der Leidenschaft

von Thomas Lackmann

Ein verwundeter Drache zappelt in der Schlinge einer roten Acht: Das Plakat aus dem Ersten Weltkrieg wirbt beim Deutschen Volk um die achte Kriegsanleihe. Zwei Fräuleins in wehendem Zartgrün tollen mit einem Gnom über saftige Wiesen: Das Plakat von 1896 propagiert die Kunst- und Literaturzeitschrift »Jugend«. Zwei Bulldoggen mit zerrissener Kette posieren 1897 als Wappentiere für das Satire-Magazin »Simplicissimus«.
Poster aus der vormals weltgrößten Plakatsammlung schmücken die neue Berliner Ausstellung »Deutsche Geschichte in Bildern und Zeugnissen«. Doch begleitet wird deren Eröffnung von einem störenden Restitutions-Casus. Der Sohn des 1938 enteigneten Plakatsammlers Hans Sachs hat aus Florida beim Deutschen Historischen Museum (DHM) Ansprüche angemeldet: auf jene Plakate der Kollektion, die das DHM unbeirrt sein eigen nennt – weshalb Generaldirektor Hans Ottomeyer die angeblichen Absichten der jüdischen Erben so kommentierte: »Es wäre ein großer Verlust, wenn die Sammlung, wie zu vermuten ist, blattweise verhökert wird«, sagte er im Februar einer Berliner Tageszeitung. Danach intervenierte das Bundeskanzleramt. Seitdem klingen die Töne aus dem Zeughaus etwas vorsichtiger.
Breslau 1896. Der Primaner Hans Sachs entdeckt in der mit Reklamebildern tapezierten Bude eines Schulfreundes die Leidenschaft seines Lebens: eine geheimnisvolle Welt der Kunst und jener Boheme, die im bürgerlichen Elternhaus als Gesindel gilt. »Am nächsten Morgen beschloß ich, eine Plakatsammlung anzulegen.« Klassische französische Exemplare erhält Hans von Vaters Freunden aus Paris. Auf Reisen durch Europa bringt er dutzende Blätter im Rucksack mit. Der Großvater war Deutschlands erster jüdischer Hofdentist gewesen, in Mecklenburg-Strelitz; sein Vater, einer der Erfinder der Porzellanfüllung, ist Zahnarzt bei Wilhelm II. Auch Hans ergreift diesen Beruf und engagiert sich als Gründer des »Vereins der Plakatfreunde«, als Verleger und Schriftleiter des Periodikums »Das Plakat«, als Förderer der Gebrauchsgraphik. Sein Ziel: »Kein unkünstlerisches Plakat, keine kitschige Anzeige mehr in Deutschland!« Er verbreitet, sagt sein Künstler-Freund Lucian Bernhard, »das Evangelium der Schönheit in der Reklame über die ganze westliche Hemisphäre«.
Als die auf 12.300 Blätter angewachsene Plakatsammlung und eine weitere von 18.000 kleingraphischen Blättern 1923 beinah einem Brand zum Opfer fallen, läßt sich Sachs von dem Theaterarchitekten Oskar Kaufmann ein Museum für angewandte graphische Kunst entwerfen – eine Schatzkammer aus kaukasischem Nußbaumholz mit Ornamentendecke, erst für die Villa in Berlin-Nikolassee, dann eingebaut in die Stadtwohnung am Lützowufer. Hier kommen Freunde und Fachleute zu Vorträgen zusammen. Der 9.000 Mitglieder-«Verein der Plakatfreunde« hatte sich, von extremen Rechten attackiert, schon 1921 aufgelöst. Ab 1936 steht Sachs nicht mehr im Deutschen Zahnärztebuch. Die letzte öffentliche Ausstellung seiner Plakate findet 1937 im Berliner Jüdischen Museum statt. Als Pakatfans getarnt schnüffeln Gestapobeamte im selben Jahr seine Wohnung aus.
24 Stunden Haft und Verhör. Auswanderungsvorbereitungen. Seinen Augapfel, 31 Toulouse-Lautrecs, schmuggelt ein Freund ins Ausland. Als ein Großbankier die Plakat-Kollektion erwirbt, meldet sich das Propagandaministerium: Politische Drucksachen zu sammeln sei verboten. Alles werde konfisziert. Von einer Strafe sehe man ab. Dr. Goebbels wolle dem Kunstgewerbemuseum einen Flügel für die »Kunst des Kaufmanns« hinzufügen. »Am nächsten Morgen erschienen drei riesige Lastwagen. Der schwärzeste Tag meines Lebens.« Nach der Pogromnacht wird Sachs ins KZ Sachsenhausen verschleppt. Im Dezember 1938 emigriert er mit 20 Mark in der Tasche, für sich, seine Frau Felicia und den einjährigen Peter.
Nachtstudium in New York. Jobs zum Überleben. Lautrecs Plakat-Ouevre muß er verkaufen. Komplett, für 500 Dollar! Nicht auseinanderreißen! Später findet er verbittert einzelne der für ein Vielfaches auf den Markt geworfenen Blätter mit seinem Inventarstempel. 62jährig erwirbt er in Harvard das amerikanische Zahnarzt-Diplom. 1953 nimmt er Abschied mit einer Bilanz: »Die größte Plakatsammlung der Welt 1896 bis 1938. Ein Lebensinhalt – wie er entstand und – verschwand.«
Er beschreibt die Perfektion seiner Kartei, 12 Kästen mit je 1000 Karten, und der Aufhängung jener auf Leinen gezogenen 12.500 Stücke an 600 schwenkbaren Aluminiumarmen. »An Hand dieser Kartei war es leicht, innerhalb von 2 Minuten jedes gesuchte Plakat herauszufinden, den betr. Arm, auf dem 20-25 Plakate vereinigt waren abzunehmen, auf eine Staffelei zu hängen und zu präsentieren.« Er nennt Länder und Namen, von Edouard Manet bis zu Jules Cheret, von Franz von Stuck bis zu Käthe Kollwitz und Max Slevogt, und »ca. 50 Stierkampfplakate der berühmtesten Stiergefechte aus den Jahren 1885 bis 1927«. In den »Jahren des Grausens«, schreibt er, sei »Größeres, Wertvolleres, Wichtigeres« zugrundegegangen. »Gigantisch erscheint das Ausmaß solcher Vernichtung, winzig der Verlust eines Haufens bedruckten Papiers, der auf drei Lastwagen Platz hatte. Und doch spiegelt ... das Schicksal von 28.000 bedruckten Blättern in gewissem Sinn den Ablauf der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wider: Sammlerleidenschaft – Kunstbegeisterung – Dienst an Kunst und Künstler – Absturz – und ein kaltes Nachspiel ...« 1961 erhält er in einem Vergleich mit der Bundesrepublik für die verlorene Sammlung den geschätzten Mittelwert: 225.000 DM.
1966 erfährt Hans Sachs durch deutsche Freunde, daß Teile seiner Sammlung im Zeughaus, dem Ost-Berliner Museum für Deutsche Geschichte aufgetaucht sind. Beglückt bittet er den dortigen Kunsthistoriker Rademacher, sich doch mit ihm während eines Kuraufenthaltes in Bad Nauheim zum Gedankenaustausch zu treffen, er bezahle gern das Hotel für den Plakatfreund! Da die DDR jüdisches Eigentum nicht restituiert, beteuert der 85jährige, nur ideell interessiert zu sein, zumal er eine »achtbare« Abfindung erhalten habe. Rademachers West-Reise wird untersagt, die Korrespondenz bricht ab. 1974 stirbt Sachs, seine Asche wird aus dem Flugzeug rund um die Freiheitsstatue in New York verstreut.
Seinem Sohn Peter, behauptet dieser heute, hatte der Sammler nie von der Wiederentdeckung erzählt. Auch Felicia Sachs erwähnt davon nichts. Als Peter 1990 seiner Mutter Nachforschungen vorschlägt, will diese keine »Wellen schlagen«, um ihre monatliche Wiedergutmachungszahlung nicht zu gefährden. Sie stirbt 1998 im Alter von 95 Jahren. Ihr Sohn sagt, er sei erst 2005 im Internet darauf gestoßen, daß sich im DHM tausende Plakate seines Vaters befinden.
Am 15. September 2005, vier Tage nach dem Ende der DHM-Ausstellung »Legalisiertes Raubgut«, meldet der Berliner Anwalt Matthias Druba den Anspruch seines Mandanten auf die im Zeughaus befindlichen Teile der Hans-Sachs-Sammung an, 4.300 Plakate – gegen die Rückzahlung der Summe von 1961. Als bis Februar 2006 keine Reaktion erfolgt, droht Druba mit einer Klage. Seitdem betonen DHM-Generaldirektor Ottomeyer (»Es gibt keinen Rechtsstreit, es gibt Rechtsanwaltsbriefe«) und Sammlungsleiter Dieter Vorsteher (»Die Erben wußten seit 20 Jahren davon, zwei Fristen sind verstrichen«) vor allem, daß sie ihrer Sache sicher sind.
Von der empfindsamen Reaktion des DHM, wo man noch 1994 eine gute Ausstellung über Hitlers Hoffotografen meinte absetzen zu müssen, weil einige Juden den Führer auf Berliner Plakaten nicht akzeptieren wollten, ist wenig übriggeblieben. Jüngste historische Erkenntnisse über die Beteiligung deutscher Bürger an der Judenausplünderung – von »Aktion 3«, der Ausstellung zur »Arisierung«, bis zu Hitlers Volksstaat von Götz Aly – haben im Verhalten der beiden Fachleute keine stilbildende Sensibilität hinterlassen.
Erst Staatsminister Bernd Neumann mußte dem Sachs-Anwalt beteuern, daß moralische Aspekte im DHM nicht ignoriert werden, daß die Bundesregierung eine faire Lösung wolle. Dabei konnte sich im Kanzleramt die Restitutions- gegen die Museumsabteilung durchsetzen: Neumanns Stellvertreter, ein Mitglied im DHM-Stiftungsrat, wurde vom Chef zurückgepfiffen. Nun soll eine Kommission unter der Präsidentin des Goethe-Instituts, Jutta Limbach, den Streit schlichten.
Doch von der Rechtsposition der DHM-Vertreter scheint sich der Staatsminister nicht zu distanzieren. DHM-Anwalt Lutz von Pufendorf argumentiert, die Entschädigungssumme von 1961 sei »einwandfrei« ermittelt worden. Zwar habe die Sammlung damals als verschollen gegolten, aber man dürfe unterstellen, daß Felicia Sachs bewußt darauf verzichtet habe, Ansprüche geltend zu machen: sowohl aus dem von 1976 bis 1978 zwischen den USA und der DDR eingerichteten »Programm« zur Entschädigung als auch in den Wendejahren 1990 bis 1993, nach dem Gesetz zur Regelung offener Vermögensfragen. Die gesetzliche Frist hätten die Erben laut Pufendorf einhalten können, da der »Verbleib des Kulturguts« geklärt war.
Ein Rechtsgutachten für Peter Sachs von der Frankfurter Viadrina-Universität widerspricht: Weder bei Hans Sachs, der sich gefreut habe, seine Plakate »in guten Händen« zu wissen, aber als 85jähriger kaum gegen die DDR prozessieren mochte, noch bei seiner Frau könne von unwiderruflichem Verzicht auf Rückforderung die Rede sein. Ein Verzicht entstehe nicht durch Unterlassung, hier fehle die »empfangsbedürftige Willenserklärung«. Das USA/DDR-»Programm« beziehe sich übrigens auf Enteig- nungen nach dem 8. Mai 1945, sei also irrelevant; das »Unterlassen« der dementen 91jährigen im Jahr 1991 produziere keine »Rechtsfolge«. Da Peter Sachs den Aufbewahrungsort der Sammlung nicht gekannt habe, könne auch sein »Nichtstun« mit keiner Konsequenz verknüpft werden. Die Bundesrepublik hat sich 1998 in Washington verpflichtet, Vorkriegseigentümer von NS-Enteignungen und deren Erben zu ermutigen, »ihre Ansprüche ... anzumelden«.
Peter Sachs ist heute Ende sechzig, ein pensionierter Pilot. Er versucht zu erklären, warum er erst im Vorjahr Zeit und Kraft gefunden hat, den Schatz seines Vaters zu suchen. Vieles aus den nachgelassenen Briefen der Eltern hat er erst durch Übersetzungen seines Anwalts Gary Osen erfahren. Wenn er die Sammlung zurückerhalte, werde er glücklich sein, irgendwo ein Museum zu finden, das sie im Ganzen wolle – und zeigen wolle. Ins DHM sollen die Plakate nicht mehr, »nehmen Sie das nicht persönlich.« Wurde er zur Ausstellungseröffnung eingeladen? »Nein, ich habe von ihnen nie ein Wort gehört.«
Für die DHM-Dauerausstellung der 8.152 Objekte wäre ein Abgang der Sachs-Sammlung kein Desaster. Die Zahl der dort aktuell eingesetzten Poster differiert in Statements des Generaldirektors und des Sammlungsleiters zwischen 38 und 18. Wie auch der Umfang der qualitativ unvergleichlichen Sachs-Restsammlung innerhalb der 80.000 Plakate des Museums. Mal sind es 8.000 (DHM-Katalog 1992), mal 3.700 oder 4.500. Trotz solcher Zahlenspiele sind dem Herrn der Dinge seine Objekte ganz wichtig. Er ist »beglückt«, wie geliebte Exponate nun »in einen Zusammenhang traten, der sie zum Sprechen bringt«.
Horten ohne Haltung: Der Zusammenklang von Ottomeyers kalter, positivistischer, positionsloser, erzählunlustiger Geschichtsschau mit dem Streit um Sachs & Co. bringt Untertöne zum Schwingen. Wie Wagners Drache Fafner im »Siegfried« den Schatz seines Hauses bewacht (»Ich lieg und besitz, laßt mich schlafen«) versteht der Prinzipal selbst gegenwärtige Vergangenheit als Fundus – und bedient die Neue Deutsche Wurstigkeit.

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