soziologie

Dandy der Demoskopie

Bundeskanzler Helmut Kohl nennt im Februar 1986 die Umfrage-
werte aus Alphons Silbermanns Antisemitismusstudie »absurd«. Dessen Kölner Institut für Massenkommunikation findet bei 20 Prozent der bundesdeutschen Bevölkerung ausgeprägt antisemitische Vorurteile. Als Silbermanns Er-
gebnisse dem Kanzler in der Aktuellen Stunde des Bundestages zum wiederholten Male vorgelegt werden, gelten die vier Jahre alten Daten immer noch als empörend, ja aufrührerisch.
Und wenige Monate nach Kohls Abwehr erscheint eine Gegenstudie zur Silbermannschen im »Stern«. Das konservative Allensbacher Institut für Demoskopie stutzt die vorgelegten Zahlen um mehr als zwei Drittel. Doch Silbermann – angespornt durch Widerstand aus höchsten Reihen – legt nach: Elisabeth Noelle-Neumann, die Gründerin des Allensbacher Instituts, hatte in den 40er-Jahren für Goebbels Wochenzeitung »Das Reich« ge-
schrieben, so Silbermann. Erforscht sie jetzt, was sie früher propagiert hatte?
Der Kölner Soziologe gilt in Folge als Ruhestörer – und in Teilen der bundesrepublikanischen jüdischen Gemeinden als Nestbeschmutzer. Aber Silbermann trotzt: Wenn es sein müsse, sei er auch der größte Antisemit unter den Juden. Diese Episode ist typisch für den Remigranten Alphons Silbermann – sein Leben ist gelebte Soziologie. Mit seiner Autobiografie Verwandlungen legt er beredtes Zeugnis davon ab.
Sein Leben beginnt durchaus privilegiert. 1909 wird Alphons Silbermann in Köln in eine jüdische Kaufmannsfamilie hineingeboren. War sein Großvater noch umherziehender Trödler, so avanciert sein Vater zum gutbürgerlichen Druckereibesitzer. Silbermann bekommt Klavierstunden und will sogar Dirigent werden. Doch auf elterlichen Wunsch hin studiert er Jura und promoviert kurz vor Antritt seines Exils noch bei dem bedeutenden Rechtsgelehrten Hans Kelsen. Als Flüchtling stellt er in Paris Spielautomaten auf, bevor er die französischen Behörden überlistet, um sich ein lebensrettendes Schiffsticket nach Australien zu ergattern.

fast-food-pionier In Sydney dann eröffnet er im Jahr des Kriegsausbruchs einen Hamburger-Laden. Drei Jahrzehnte vor dem ersten McDonald’s in Australien gründet er eine Fast-Food-Kette, die Silvers Food Bars. Wieder in Paris tritt er nun als wohlhabender Mann in der haute société auf, um sich als Musiksoziologe einen Namen zu machen. Doch René König wirbt Silbermann mit den Worten ab: »Was treiben Sie sich in Australien herum? Kommen Sie zu uns und arbeiten Sie hier!« König, einer der großen Gestalter der deutschen Nachkriegssoziologie, holt ihn in seine Geburtsstadt Köln zurück. Dort wird der Remigrant Silbermann schließlich noch als 60-Jähriger zum Professor für Soziologie ernannt.
paradiesvogel Im Kölner Nachkriegs-Klüngel fällt Alphons Silbermann vielen unangenehm auf – und zwar gewollt. Er trägt Goldschmuck, lebt überhaupt mondän, und aus seiner Vorliebe für schöne Tänzer des Pariser Balletts macht er keinen Hehl. Seine Bücher veröffentlicht er unter Titeln wie Ketzereien eines Soziologen, Militanter Humanismus und Der ungeliebte Jude. Auch als Alltagssoziologe stellt er sich mit Büchern wie Badezimmer in Ostdeutschland oder Von der Kunst der Arschkriecherei außerhalb des bon goût und wird allenfalls belächelt. In Fernsehtalkshows ist er ein gern gesehener Gast – Alfred Biolek nennt ihn scherzhaft seinen »Haussoziologen«. Andere nennen ihn den »Medien-Großrabbiner«. Der Soziologe Silbermann ist äußerst unterhaltsam.
Große Auftritte hat Silbermann auch als Antipode zu Theodor W. Adorno auf dem Feld der Musiksoziologie. Der Frankfurter Philosoph, so wirft Silbermann ihm vor, habe den Kontakt zum Hörer völlig verloren. Erst streiten sich die beiden öffentlichkeitswirksam – auf diese Weise landet, wer etwas gegen die spekulative Attitüde Adornos hat, beim Empiriker Silbermann –, und dann gehen sie zusammen Sauerbraten essen – so vereint sich in ihrem Gegensatz harmonisch das weite Spektrum der Musiksoziologie. Doch rückblickend ist auch Silbermanns musiksoziologisches Schaffen heute weniger von wissenschaftlicher als von gesellschaftlicher Bedeutung.

einmischer Der Streit über die Deutungshoheit in der empirischen Antisemitismusforschung zwischen Silbermann und Noelle-Neumann aus den 80er-Jahren scheint im Rückblick unentscheidbar. Zieht man die Zahlen der nachfolgenden Antisemitismusstudien zu Rate, liegen beide außerhalb des relativ stabilen Wertebereichs von zwölf bis 18 Prozent manifestem Antisemitismus in der Bundesrepublik. Was Kohl damals verdrängen will und das Allensbacher Institut möglichst niedrig bemisst, wird von Silbermann wiederum demonstrativ hervorgehoben: Antisemitismus bleibt auch in der Nachkriegsrepublik eine Gefahr.
So hat Alphons Silbermann aus gutem Grund nie den öffentlichen Disput gescheut. Der vor knapp zehn Jahren verstorbene Soziologe Alphons Silbermann wäre am 11. August 2009 100 Jahre alt geworden. Und wo sind die Silbermänner heute?

Mario Voigt mit Stimmen der Linken zum Ministerpräsident gewählt

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