Südafrika

Chaos am Kap

von Karl-Ludwig Günsche

Sie schlagen Schaufensterscheiben ein, johlen, plündern. Ladenbesitzer werden herausgezerrt, geschlagen, getreten, verjagt. Jede zersplitterte Scheibe, jeder Schlag auf die hilflosen Opfer wird von Jubelrufen begleitet. »Wir wollen euch hier nicht,« schreit die Menge. Es war immer das gleiche Horrorszenario, in Kapstadt, in Durban, in Johannesburgs Elendsviertel Alexandra, wo die Welle der Gewalt anfing, die Südafrika erschüttert hat: Ein aufgehetzter und aufgewühlter Mob schlägt wahllos auf jeden ein, der fremdartig erscheint, Häuser werden niedergebrannt, Menschen gehetzt, erschlagen.
Die Bilder, die zwei Wochen über die Fernsehschirme Südafrikas und der Welt gegangen sind, haben die Erinnerungen wieder geweckt, die uralten Ängste. Vor der Synagoge in Kapstadts Villenviertel Green Point sagt ein Sozialarbeiter um die 60, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte, die Wut und der Hass, die Brutalität und der Vandalismus der Ausschreitungen hätten auch in ihm die Furcht wieder lebendig werden lassen: »Wir sind seit Jahrtausenden verfolgt worden. Für uns ist es doch ein ganz normaler Instinkt, dass wir sofort denken: Wir können die Nächsten sein.«
Der Sozialarbeiter ist aus Johannesburg nach Kapstadt gekommen, um ein paar Tage Abstand zu gewinnen. Denn er kennt die Brennpunkte, an denen alles begann, Alexandra vor allem. Doch die Gewaltwelle war schneller als er: Sie hatte Kapstadt schon erreicht, als er ankam. In sieben der neun Provinzen Südafrikas ist es zu fremdenfeindlichen Zusammenstößen gekommen. Fast 50 Tote sind zu beklagen. 25.000 Menschen sind im Norden, in Gauteng, obdachlos geworden, 20.000 wurden in der Kapregion von einem wütenden Mob aus ihren ärmlichen Unterkünften gejagt. Zehntausende fliehen. Bis zum Wochenbeginn hatten allein 20.000 Mosambikaner panikartig das Land verlassen. Auch wenn die Polizei verkündet, die Lage sei unter Kontrolle, bleibt doch die Angst. »Dieses Gebräu aus Fremdenfeindlichkeit, ethnischen Spannungen, Armut und Hoffnungslosigkeit kann jederzeit wieder explodieren – und niemand weiß, wer dann die Opfer sind. Die Juden? Die Weißen?«
Auch Jody Kollapen von der südafrikanischen »Kommission für Menschenrechte« (HRC) fürchtet, dass Alexandra nur der Anfang war. Fünf Millionen Flüchtlinge leben nach inoffiziellen Schätzungen in Südafrika, die meisten illegal. Armut, Hunger, Obdachlosigkeit, ein marodes Bildungssystem, unzureichende medizinische Versorgung, die Aids-Seuche schüren in den Townships den Hass auf die Fremden. »Sie nehmen uns unsere Arbeitsplätze weg, unsere Wohnungen, unsere Frauen«, ist das Klischee, das der Mob immer wieder als Erklärung für seine Gräueltaten anbietet. Es ist ein Krieg der Armen gegen die Armen, der hier entfesselt wurde. HRC-Aktivistin Jody Kollapen ahnt: »Andere Alexandras warten nur darauf zu explodieren.« In einer sozial instabilen Gesellschaft sei es einfach, die eigenen Frustrationen an Fremden abzureagieren. Das Muster ist immer gleich.
Zev Krengel, Vorsitzender des südafrikanischen Board of Deputies (SAJBD), der jüdischen Dachorganisation des Landes, kennt dieses Muster nur zu genau. Die fremdenfeindlichen Ausschreitungen, so erklärte er in einer offiziellen Stellungnahme, »erinnern an einige der dunkelsten Zeiten in der jüdischen Geschichte, als hilflose Juden in den Gaststaaten, in denen sie lebten, mörderischen Attacken ausgesetzt waren.« Sie erinnerten aber auch an die religiös motivierte Gewalt, die in anderen Teilen Afrikas zu völkermordartigen Grausamkeiten geführt habe und immer noch führe, so Krengel.
In einem von mehreren Hundert jüdischen Südafrikanern unterzeichneten Offenen Brief heißt es bitter: »Als Juden wissen wir, was Rassenhass und Fremden- feindlichkeit bedeuten.« Neben dem Entsetzen über die Brutalität war deshalb die Solidarität mit den Opfern oberstes Gebot für die jüdische Gemeinde. »Unsere Herzen sind bei ihnen,« versicherte Oberrabbiner Warren Goldstein unmittelbar nach Ausbruch der Unruhen. Die »Vereinigung jüdischer Frauen« sammelte in knapp einer Woche eine »bedeutende Summe« Geld sowie 29 Wagenladungen Hilfsgüter: Kleidung, Decken, Lebensmittel, Hygienartikel.
Die Unruhen treffen die Juden Südafrikas in einer Zeit, da sie ohnehin verunsichert und von Zukunftsängsten geplagt sind. Die Gemeinde sei »sehr nervös«, sagt der frühere SAJBD-Präsident Michael Bagraim. »Wird Südafrika den Weg Simbabwes gehen, wird die zerbröckelnde Infrastruktur die Wirtschaft lähmen, wird es für unsere Kinder hier eine Zukunft geben?«
Seit der Wahl des skandalumwitterten Populisten Jacob Zuma zum Präsidenten des African National Congress (ANC) und damit aller Wahrscheinlichkeit nach zum künftigen Staatsoberhaupt Südafrikas ist kaum absehbar, in welche Richtung das Land gehen wird. Die ausufernde Kriminalität, die Energiekrise, Armut und Aids verunsichern nicht nur die jüdische Gemeinschaft des Kap-Staats. Doch sie beobachten die Entwicklung sehr genau, genauer vielleicht als andere. Drei Juden sind in den vergangenen Monaten ermordet worden. Immer wieder berichten die Zeitungen über antisemitische Vorkommnisse. So wurde in Kapstadts traditionellem jüdischen Wohnviertel Sea Point im April Familie Bagraim »aus heiterem Himmel« von ihren Nachbarn beschimpft: »Ihr Juden solltet alle in die Gaskammern geschickt werden und brennen.« Michael Bagraim sagt, dass derartige Verunglimpfungen »nicht nur die gesamte jüdische Gemeinde verunsichern« und »unglaublich schmerzen«, sondern auch ernst genommen werden müssten.
Zev Krengel glaubt, dass angesichts dieses innenpoliitschen Klimas in Südafrika eine neue Auswanderungswellle »unabwendbar« sei. Ofer Dahan, Leiter des Israel-Zentrums in Südafrika, befürchtet sogar einen »dramatischen Anstieg« der Auswandererzahlen.
Ohnehin ist die jüdische Gemeinde in den vergangenen Jahrzehnten stark geschrumpft. Zählte man 1970 noch 120.000 Mitglieder, sind es heute nur noch 75.000. Nach Dahans Schätzungen wird die Zahl der Ausreisewilligen 2008 im Vergleich zum Vorjahr um 80 Prozent steigen. Vor allem die jungen, gut ausgebildeten Leute wollen Südafrika verlassen. Doch noch mahnt Zev Krengel zur Besonnenheit: »Unsere Rechte als Minderheit sind geschützt, und wir haben hier den geringsten Antisemitismus weltweit.« Der Sozialarbeiter ist skeptischer: »Ich fürchte, dass diese Eruption der Gewalt Schleusen geöffnet hat, die niemand mehr zu schließen vermag.«

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