Zeitzeugen

Behütet und ausgeschlossen

von Miryam Gümbel

Um »Jüdische Kindheit in München während der NS-Zeit« ging es im voll besetzten Vortragssaal der Münchner Volkshochschule im Gasteig. »Zwei Amerikanerinnen und ein Brite«, so Moderatorin Ellen Presser vom Kulturzentrum der Münchner Kultusgemeinde, erinnerten sich an ihre Kindertage in Bayern und blickten dabei auf eine doch recht behütete und vom politischen Alltag weitmöglichst abgeschirmte Kindheit zurück.
Anlaß für diesen Rückblick war die Ausstellung Traurigsein kommt sowieso, die im Jüdischen Museum einige Poesiealben jüdischer Münchnerinnen aus den späten 30er Jahren zeigt. Eines davon gehört Hilda Yohalem, die als Hilde Rosenbaum bis 1938 in dieser Stadt lebte. Sie kam hier 1927 zur Welt, ebenso wie Christine Roth Schurtmann, die erst nach Kriegende nach New York emigrierte. Der dritte Emigrant in dieser Runde war Professor Edgar Feuchtwanger, geboren 1924. Er lebt heute in Southampton in England.
Nach den ersten Erinnerungen befragt, spielten bei allen Dreien die Ferien außerhalb der Stadt eine große Rolle. Die Urlaubsaufenthalte im Allgäu hörten für die Familie Feuchtwanger allerdings schon Anfang der 30er Jahre auf. Dann gab es nur noch Ausflüge an den Starnberger See. Dort und am Tegernsee lagen auch die Feriendomizile der Familie Rosenbaum. Einer der damaligen Spielkameraden der kleinen Hilde war ihr Podiumsnachbar Edgar Feuchtwanger.
Das Nebeneinander und die beginnende Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung schilderte Hilda Yohalem am Beispiel einer Quartierssuche am Starnberger See. Die Familie wurde schließlich fündig. Mutter Rosenbaum sagte der Hausherrin, daß die Familie jüdisch sei. Das mache nichts aus, war die Antwort, doch man solle in einem eigenen Zimmer das Essen einnehmen, getrennt von den anderen Gästen. Nach einer Woche wurde die Familie aufgefordert, doch mit den anderen zum Essen zu kommen. Hildes Mutter lehnte ab, meinte, alles sei so ganz in Ordnung.
Erst mit Beginn der Schulzeit wurde der kleinen Hilde klar, daß sie Jüdin war. Weihnachten und Weihnachtsmann gab es dann in der Familie nicht mehr, das Ostereier-Suchen blieb. Die Problematik der Nazi-Zeit hatten ihre Eltern nie mit ihr diskutiert. Ihre Mutter sagte ihr später, daß es gefährlich hätte sein können, vor dem Kind etwas zu sagen. Ihre Freundin Leni Weiß wußte da mehr. Alles, was Hilde über die Welt außerhalb der Familie erfuhr, erzählte ihr die Freundin.
Am deutlichsten wurde den Kindern ihr Anderssein, ihr Ausgeschlossensein durch den zwangsläufig häufigen Schulwechsel und schließlich den Verweis von der Schule. Die Erziehung, begleitet von nationalsozialistischem Gedankengut, nahmen die jungen Schüler damals gelassener, als man heute annimmt. Ellen Presser ließ Bilder aus Schulheften an die Wand projizieren, die nationalsozialistische Symbole, gezeichnet von den Schülern, zeigten. Auch Vater Feuchtwanger habe die Schulhefte, wie alle anderen Väter, abgezeichnet, und das ohne Kommentar dem Sohn gegenüber. Edgar Feuchtwanger – die Familie wohnte in der Grillparzerstraße, nahe dem Prinzregentenplatz – erinnert sich auch, daß er als Kind gelegentlich Hitler aus dessen Haus habe kommen sehen, erst ohne großen Auftritt, mit einer Art Trachtenhut, später mit großem Zeremoniell.
Daß die Familie Feuchtwanger unter besonderer Beobachtung stand, mag, so führte Edgar Feuchtwanger aus, an zwei Dingen gelegen haben. Einmal daran, daß sie jüdisch war, zum anderen aber auch an dem kritischen Onkel, dem Schriftsteller Lion Feuchtwanger.
Die Trennung von der Heimatstadt fiel allen drei Vätern schwer. Nicht zuletzt deshalb wurde sie hinausgezögert. Außerdem war es schwierig, die finanziellen Bürgschaften zu bekommen und andere notwendige Voraussetzungen zu erfüllen.
Hilde Rosenbaum, die als Kind nicht nur mit jüdischen Kindern spielte, hielt zunächst noch Briefkontakt mit ihren christlichen Münchner Freundinnen. Zwei von ihnen waren nach mehr als 60 Jahren zu der Veranstaltung in den Gasteig gekommen. Eine von ihnen beantwortete die Frage, wie denn die deutschen Kinder den Wegzug der Freundin aufgenommen hätten: Sie sei vermißt worden, und der persönliche Nachteil habe sich darin geäußert, daß der neue Hausbesitzer die Kinder schon bald nicht mehr im Garten habe spielen lassen. Aber irgendwie – so die kindlichen Gedanken damals – »war es toll, daß Hilde jetzt in Amerika ist. Nur – die hätten doch noch warten können, bis das Oktoberfest vorbei ist.«
Anders verlief das Schicksal von Christine Roth. Ihr Vater war Jude, die Mutter Katholikin. Schutz bedeutete das für die Kinder nicht. Mit 16 wurde sie von der Schule verwiesen. Dem Vater gelang die Emigration in die USA. Seine Schwester und seine jüdische Familie wurden mit dem ersten Transport von München nach Kaunas gebracht und dort ermordet.
Die Mutter ließ sich trotz aller Aufforderungen nicht von dem emigrierten Mann scheiden. Die katholische Familie und Freunde gaben ihr und den drei Kindern Halt und Schutz, bis sie nach Kriegsende in New York wieder zusammenfanden. Daß der Bruder der Mutter auch ihrem Vater bei seinem ersten Versuch, in die Schweiz zu fliehen, sehr geholfen hatte, erfuhr Christine erst später. Die Verbindung nach München blieb für sie auch weiter bestehen.
Dennoch fühlt sie sich, ebenso wie Hilda Yohalem, ganz bewußt als Amerikanerin und New Yorkerin. Die beiden Frauen sind auch überzeugt, daß sie ohne die Emigration nicht zu einem Studium und einer eigenständigen Karriere gekommen wären.
Alle drei Münchner waren sich aber einig, daß sie hier eine von ihren Eltern behütete und damit auch eine in vielen Punkten schöne Kindheit erlebt haben.

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