Apulien

Auszug aus Apulien

von Gerhard Mumelter

Die Vision, die sein Leben verändern sollte, erschien Donato Manduzio in einer schwülen Sommernacht des Jahres 1930. Da tauchte im weiß gekalkten Schlafzimmer seines ärmlichen Hauses ein Unbekannter mit einer Laterne aus dem Dunkel auf. »Ich bringe dir das Licht«, verkündete der Fremde, dessen Gestalt sich beim Entzünden der Laterne wieder verflüchtigte. Mit der mysteriösen Erscheinung, die Manduzio detailliert in seinem Tagebuch festhielt, wusste der 45-jährige Süditaliener nichts anzufangen – bis ihm tags darauf ein Bekannter eine Bibel schenkte. Er habe sie von einem Protestanten erhalten, könne sie aber nicht lesen, so der Mann. Manduzio begann sich hineinzuvertiefen. »Schon nach den ersten Seiten entzündete sich in meinem Herzen ein Licht, und ich begriff die Erscheinung vom Vortag«, notiert er.
Unter dem Eindruck der Lektüre beschloss er, Madonnenstatuen und Heiligenbilder aus seiner Wohnung zu entfernen. Nach einigen Wochen begann er, auch die Mitbürger seines apulischen Dorfes San Nicandro Garganico mit der biblischen Botschaft vertraut zu machen. So näherte sich der 1885 in einer armen Tagelöhnerfamilie Geborene unbewusst dem Judentum.
Manduzio, der nie eine Schule besucht hatte, hielt die Juden für ein in den Wirren der Jahrhunderte verschwundenes Volk wie die Phönizier oder die Hethiter. Der im Ersten Weltkrieg verletzte und am Bein operierte Analphabet hatte im Lazarett schreiben gelernt und angefangen, Bücher zu le- sen. Ein Wanderhändler klärte 1931 seinen Irrtum auf und versorgte Manduzio mit den Adressen einiger Juden in Turin und Florenz. Eine Postkarte, die er an den römischen Oberrabbiner schrieb, landete als vermeintlicher Scherz in dessen Papierkorb. Auf das dritte Schreiben des hartnäckigen Dörflers reagierte der irritierte Rabbiner mit Zweifeln: »Sie und Ihre Freunde möchten zum Judentum übertreten. Doch wie kann ein solcher Wunsch in einem Dorf entstehen, in dem es weder Juden noch deren Religion als tägliche Praxis gibt?«
1935 kommt es zu ersten direkten Kontakten zwischen Manduzios Kreis und der jüdischen Gemeinde in Rom. Zwei Jahre später taucht in dem apulischen Ort erstmals ein Abgesandter des Oberrabbiners auf, der Gebetsschals mitbringt. Doch mitten im Faschismus erweist sich der Zeitpunkt für die Entstehung einer jüdischen Gemeinde als denkbar ungünstig. Nach dem Erlass von Mussolinis Rassengesetzen werden in San Nicandro die Kinder der Konvertiten der Schule verwiesen.
Beim Anrücken der deutschen Truppen zeigt sich die Dorfgemeinschaft solidarisch: Niemand denunziert die selbst ernannten Juden des Ortes. Wie durch einen Zufall wird die Gemeinde im Hügelland an der Adria 1944 von britischen Soldaten aus der achten Armee Montgomerys befreit, der eine jüdisch-englische Brigade angehört. Die Begeisterung ist groß, schlägt jedoch bald in Skepsis um. Den Militärrabbiner stört Manduzios selbst gestricktes Glaubensbekenntnis, sein Interesse an Mystik und Magie erregt Misstrauen. In der Gemeinschaft bricht ein Konflikt aus, der im Sommer 1945 wieder beigelegt wird. Doch erst im August 1946 wird der Wunsch der apulischen Konvertiten Wirklichkeit: Sie werden beschnitten, nehmen das Tauchbad in der nahen Adria, und Manduzios Haus wird zur behelfsmäßigen Synagoge. Dem Wunsch seiner Anhänger, sie nach Palästina zu begleiten, widersetzt sich Manduzio hartnäckig. Erst nach seinem Tod verlässt die Gemeinschaft 1949 in drei Wellen den Heimatort und wandert nach Israel aus. Nur wenige bleiben zurück.
»Ich war neun, als ich aus der Schule geworfen wurde. Die Kinder in meiner Gasse schmissen mit Steinen nach mir und schimpften mich Sabatista«, erinnert sich Ester Tritto, die seit 60 Jahren mit ihrem Mann Eliezer in Israel lebt. Den apulischen Dialekt ihrer Kindheit beherrscht sie noch perfekt, und bis heute gehört die Pizza Sannicandrese zu ihren Leibspeisen. In der Wohnung des Paares hängt neben der israelischen Flagge ein Kalender des Gargano-Nationalparks und ein verblasstes Fotos der beiden im Aufnahmelager Aschkelon 1949.
»Sie waren ziemlich laut und haben für alle gekocht«, erinnert sich der tunesische Einwanderer Zion an die 20 apulischen Familien im Kibbuz Alma. Ester Tritto denkt an die bewegten Jahre in ihrem Heimatdorf zurück: »Zu Manduzios Versammlungen kam anfänglich die halbe Bevölkerung.« Doch die neuen Regeln schreckten viele Bewohner ab. »Die Abkehr vom Sonntag und das Verbot des Verzehrs von Schweinefleisch stießen auf Unverständnis. Einige Männer schlugen ihre Frauen, weil sie keine Würste mehr kochen wollten.«
Fast ein halbes Jahrhundert nach Donato Manduzios Tod kehrten Ester Tritto und ihr Mann 2006 für einen BBC-Dokumentarfilm nach San Nicandro zurück, dessen jüdische Gemeinde heute rund 40 Mitglieder zählt und über einen Gebetsraum verfügt. »Man kann es nicht Synagoge nennen«, gibt sich Incoronata Giuliani be- scheiden, »dazu ist es zu klein.«
Immer wieder zieht die kleine apulische Gemeinde jüdische Touristen an. »Letzten Sommer war eine ganze Gruppe aus Tel Aviv hier«, sagt Giuliani. Anfang des Jahres hat der Verein »Associazione Donato Manduzio« ein Buch mit alten Liedern veröffentlicht. Zwei weitere Bücher schildern den seltsamen Werdegang der kleinen Glaubensgemeinschaft. Im volkskundlichen Museum von San Nicandro widmet sich ein Teil der Dauerausstellung der Entstehungsgeschichte der jüdischen Gemeinde des kleinen Ortes sowie dem Leben des apulischen Propheten Donato Manduzio.

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