Strafrecht

Auf den Menschen kommt es an

von Yair Hass

Die Strafe für Mord oder Totschlag in der Tora ist die Todesstrafe. Das hethitische Recht verlangt hingegen in diesem Fall vom Schuldigen, daß er der Familie des Getöteten eine Reihe von Sklaven zu übergeben hat, die den Verlust ausgleichen. Moshe Greenberg bemerkt in seinem Aufsatz Voraussetzungen des biblischen Strafrechts, daß diese Unterschiede zwischen dem Strafrecht in der Tora und in den Nachbarkulturen des alten Israel auf einem revolutionären Wandel in der ethischen und geistlichen Wahrnehmung des Menschen fußen.
So wird der Mensch im hethitischen Recht an seiner Nützlichkeit für das Gemeinwesen gemessen. In der Tora besitzen alle Menschen als Geschöpfe nach dem Bild Gottes einen absoluten und unvergleichlichen Wert.
Der Tora-Gelehrte Don Isaac Abarbanel (15 Jhdt.) stellte einen ähnlichen Unterschied zwischen den Gesetzen der Tora und den Gesetzen anderer Völker fest. Er versuchte auch, die Frage zu beantworten, aus welchem Grund die Tora rationale Gebote enthält. Gebote, die auch der menschliche Verstand sich herleiten kann, brauchen in der Tora nicht enthalten zu sein, sie scheinen dort überflüssig. Das steht jedoch in Widerspruch zur Integrität der Tora als Wort Gottes. Man braucht Erklärung, aus welchem Grund diese Gebote dennoch niedergeschrieben werden mußten.
Abarbanel wendet sich dieser Frage in seinem Kommentar den letzten fünf Geboten der zehn Gebote zu, die sich alle mit den Beziehungen zum Mitmenschen befassen. Diese fünf Gebote sind negativ formuliert, da es sich bei ihnen um Dinge handelt, die der Verstand herleiten kann. Daher erklärt Abarbanel in seinem Vorwort zur Parascha Mischpatim, daß bedeutende Unterschiede zwischen göttlichen und menschlichen Gesetzen bestehen. Sie erklären, weshalb die fraglichen Gebote in die Tora aufgenommen wurden: »Die göttlichen Gesetze unterscheiden sich von den übrigen Gesetzen der anderen Völker (...) Die göttlichen Gesetze sind anders als die von Menschen erlassenen, bei denen es nur darum geht, eine Ordnung von Staat und Gesellschaft zu garantieren. Bei diesen menschlichen Gesetzen geht es nur um deren eigenen Nutzen, den sie stiften.«
Die Tora führt für jedes Gebot in unserem Wochenabschnitt Mischpatim Beispiele aus dem zeitgenössischen Leben an. Abarbanel kommentiert so gut wie jedes einzelne Gebot und zeigt, wie die aus ihm ablesbare göttliche Weisheit der menschlichen Weisheit überlegen ist, die den Gesetzen anderer Völker zugrunde liegt.
Die Gesetze der Tora werden als Widerspiegelung der vollkommenen göttlichen Weisheit gesehen, während die menschlichen Gesetze die begrenzte und unvollkommene menschliche Weisheit widerspiegeln. Daher lautet die Rechtfertigung für rationale Gebote in der Tora, daß sie von der unzureichenden menschlichen Intelligenz allein in der Praxis nicht herleitbar wären.
Die erhellendste Erklärung findet sich im Kommentar zu dem Vers »Wenn jemand seinen Knecht oder seine Magd mit dem Stock schlägt, und er stirbt unter seiner Hand, so soll es gebüßt werden.« (2. Buch Moses 21, 20). »Hier sehen wir sowohl göttliche Weisheit wie Mitleid ... denn nach den Gesetzen anderer Völker ist eine solche Tat an seinen Sklaven nicht strafbar, da sie sagen: ›Knechte und Mägde sind Besitz.’ Der Herr aber, er gab jedem Menschen sein Gesetz, dem Sklaven und dem Herrn, der Magd und der Herrin gleichermaßen.«
Unterschiede in den Gesetzen über das menschliche Leben entstammen unterschiedlichen Wahrnehmungen vom Wert des Menschen. Anders als in Weltgegenden, in denen der Mensch nach seinem Wert für die Gesellschaft gemessen wird, betont die Tora, daß selbst ein Knecht, dessen einzige Pflicht darin besteht, seinem Herrn zu dienen, absoluten und bedingungslosen Wert hat, der ihm vom Schöpfer der Welt verliehen wurde.
Abrabanel findet, daß es so etwas wie reine Logik oder Vernunft nicht gibt. Das Recht hängt von den zugrundeliegenden Annahmen ab. Unterschiedliche Annahmen führen zu unterschiedlichen Folgerungen. Ein Dieb sollte nach den Buchstaben des Gesetzes behandelt werden, da Verbrecher mit dem bestraft werden sollen, was sie anderen zufügen wollten. In Fällen dieser Art bleibt kein Raum für Gnade. Gnade gegenüber einem Dieb bedeutet noch mehr Ungemach für dessen künftige Opfer.
Im Gegensatz dazu unterminiert Gnade in der Behandlung einer hebräischen Magd nicht die Wahrheit, sondern sie unterstreicht die Tatsache, daß sie ein nach dem Bilde Gottes geschaffener Mensch ist.
Den Gesetzen anderer Völker liegt die Annahme zugrunde, daß sich der Wert eines Menschen nach dessen Nutzen bemißt. Geht man aber von der Annahme aus, daß der Wert einer jeden Person unschätzbar ist, weil alle Menschen nach dem Bilde Gottes geschaffen wurden, dann besteht die Gerechtigkeit nach Abarbanel in der Gnade selbst. Denn es heißt: »Ihr sollt die Wahrheit und den Frieden lieben.«

Der Autor unterrichtet an der Bar-Ilan-Universität in Ramat-Gan/Israel. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Fakultät für Jüdische Studien, www.biu.ac
Mischpatim: 2. Buch Moses 21,1-24,18

Hamburg

Zehn Monate auf Bewährung nach mutmaßlich antisemitischem Angriff

Die 27-Jährige hatte ein Mitglied der Deutsch-Israelischen Gesellschaft nach einer Vorlesung über antijüdische Gewalt attackiert

 28.04.2025

Fernsehen

Mit KI besser ermitteln?

Künstliche Intelligenz tut in Sekundenschnelle, wofür wir Menschen Stunden und Tage brauchen. Auch Ermittlungsarbeit bei der Polizei kann die KI. Aber will man das?

von Christiane Bosch  21.04.2025

Reaktionen

Europäische Rabbiner: Papst Franziskus engagierte sich für Frieden in der Welt

Rabbiner Pinchas Goldschmidt, der Präsident der Konferenz Europäischer Rabbiner, würdigt das verstorbene Oberhaupt der katholischen Kirche

 21.04.2025

Berlin

Weitere Zeugenvernehmungen im Prozess gegen Angreifer auf Lahav Shapira

Der Prozess gegen Mustafa A. am Amtsgericht Tiergarten geht weiter. Noch ist unklar, ob am heutigen Donnerstag das Urteil bereits gefällt wird

 17.04.2025

Indischer Ozean

Malediven will Israelis die Einreise verbieten

Es ist nicht die erste Ankündigung dieser Art: Urlauber aus Israel sollen das Urlaubsparadies nicht mehr besuchen dürfen. Das muslimische Land will damit Solidarität mit den Palästinensern zeigen.

 16.04.2025

Essen

Was gehört auf den Sederteller?

Sechs Dinge, die am Pessachabend auf dem Tisch nicht fehlen dürfen

 11.04.2025

Spenden

Mazze als Mizwa

Mitarbeiter vom Zentralratsprojekt »Mitzvah Day« übergaben Gesäuertes an die Berliner Tafel

von Katrin Richter  10.04.2025

Jerusalem

Oberstes Gericht berät über Entlassung des Schin-Bet-Chefs

Die Entlassung von Ronen Bar löste Massenproteste in Israel aus. Ministerpräsident Netanjahu sprach von einem »Mangel an Vertrauen«

 08.04.2025

Würdigung

Steinmeier gratuliert Ex-Botschafter Primor zum 90. Geburtstag

Er wurde vielfach ausgezeichnet und für seine Verdienste geehrt. Zu seinem 90. Geburtstag würdigt Bundespräsident Steinmeier Israels früheren Botschafter Avi Primor - und nennt ihn einen Vorreiter

von Birgit Wilke  07.04.2025