Schöpfung

Auf das Leben!

von Rabbiner Boruch Leff

Das Leben ist schön. So empfinden es zweifellos die meisten von uns. Aus diesem Grund lautet der bekannteste jüdische Trinkspruch »Lechaim«, auf das Leben. Natürlich gibt es Probleme, aber unterm Strich kommen wir zu dem Schluß, daß es sich lohnt, Zeiten des Unglücks zu ertragen, um die Freuden des Lebens genießen zu dürfen.
Die Tora bestätigt unsere Beobachtung. Zum Beispiel geht es dort um das Dankopfer, das Korban Todah. Raschi (Rabbiner Salomo ben Isaak, 1040-1005) sagt über das Dankopfer (3. Buch Moses 7,12): »Wenn jemand aus Dank für ein Wunder, das ihm geschah, (im Tempel) ein Opfer darbringt. Dies bezieht sich auf jene, die auf See in Lebensgefahr gerieten, durch die Wüste reisten, aus Gefangenschaft befreit oder von einer Krankheit geheilt wurden. Von ihnen wird Dank gefordert, wie es heißt: ›Danken sollen sie dem Ewigen für all seine Gnade, für die Wunder, die er den Menschenkindern getan‹ (Psalm 107, 21)«.
Heutzutage kommen wir dieser Forderung nach, indem wir den Segen HaGomel rezitieren (»Er, der Gutes erweist ...«). Natürlich danken wir Gott, daß Er uns vor einem Unglück bewahrt hat, denn wir wollen am Leben bleiben. Wir wissen, daß es gut ist, am Leben zu sein. Genau das bringen wir auch zum Ausdruck, wenn wir nach dem Erwachen das Mode-Ani-Gebet sprechen: »Ich danke Dir, lebender und ewiger König, daß Du meine Seele zurückgebracht hast im Mitleid – groß ist Dein Vertrauen.«
Das Leben ist schön. Umso rätselhafter ist deshalb folgende Passage im Talmud (Eruwin 13 b): »Zweieinhalb Jahre stritten die Schule Schammais und die Schule Hillels: Die eine sagte, es wäre besser gewesen, wir wären nie erschaffen worden, und die andere sagte, daß es im Gegenteil besser sei, daß wir erschaffen wurden. Sie entschieden schließlich, daß es besser gewesen wäre, wir wären nie erschaffen worden, wir aber jetzt, da wir erschaffen sind, unsere Taten prüfen und läutern sollten.«
Wenn ein Abschnitt des Talmuds einer Erklärung bedarf, so ist es dieser. Es kann doch nicht sein, daß der Talmud wirklich meint, was er zu sagen scheint. Gott ist der Urquell der Güte. Er faßte den Beschluß, die Welt zu erschaffen. Und wir sollen jetzt debattieren, ob Sein Beschluß der richtige war? Ist ein anderes Urteil denkbar außer dem, daß Er uns in einem allgewaltigen Akt seiner Großzügigkeit und Güte erschuf? Was kann das für eine Diskussion zwischen Hillel und Schammai gewesen sein?
Gäbe es im Talmud eine Stelle, die besagte: 2+2=77, würde sie nicht das bedeuten, was sie zu besagen scheint. Genauso ist es auch mit dieser Passage. Es muß eine Erklärung geben, die über das hinaus geht, was die Sätze beim ersten Lesen aussagen. Was also ist die tiefere Bedeutung?
Es mag verlockend sein – wie es die oberflächliche Lektüre der Tossafot nahe- legen könnte– den Passus so zu interpretieren: Obwohl es für gerechte Individuen gewiß segensreich ist, daß sie erschaffen wurden, befolgen die meisten Menschen Gottes Anweisungen zum Leben nicht und werden bestraft. Für diese wäre es also besser gewesen, sie wären nicht erschaffen worden.
Selbst wenn wir versuchen, diesen Sachverhalt in der Sprache des Talmuds auszudrücken – wo nichts darauf hindeutet, daß ausschließlich böse Menschen gemeint sind –, fällt es sehr schwer, eine solche Erklärung zu akzeptieren. Hätte Gott eine Welt erschaffen, in der von hundert Menschen ein einziger frommer bewirkt, die Schöpfung lohnenswert zu machen, während es allen anderen abträglich ist, überhaupt erschaffen worden zu sein? Wenn es tatsächlich zutrifft, müssen wir daraus folgern, daß es statthaft ist, hundert Menschen leiden zu lassen, solange es einem zugute kommt. Kann das gemeint sein, wenn Gott der Urquell aller Güte genannt wird?
Die Erklärung ist vielmehr darin zu finden: Gott erschuf die Menschheit, und es liegt auf der Hand, daß es für alle segensreich war, erschaffen worden zu sein. Hillel und Schammai stellen nicht den eigentlichen Schöpfungsbeschluß Gottes infra-
ge. Diskutiert wird lediglich, ob wir aus unserer Perspektive das Gefühl haben sollten, daß wir hätten erschaffen werden sollen.
Jeder Mensch wird – und sei es auch nur ein einziges Mal – zu irgendeinem Zeitpunkt eine Sünde begehen, so wie es die Verse im Buch Kohelet 7,20 ausdrücken: »Doch gibt es auf der Erde keinen einzigen Menschen, der so gesetzestreu wäre, daß er stets richtig handelt, ohne je einen Fehler zu begehen.« Also fragten sich Hillel und Schammai, ob alle Vorteile des Erschaffen-Worden-Seins von unserem menschlichen Standpunkt aus gesehen die Sache wert sind, wenn es doch bedeutet, Gott zwangsläufig zu enttäuschen und ihm Schmerzen zuzufügen durch unsere Sünden.
Wüßte ein Baby, daß es durch seine Geburt seiner Mutter die größten Schmerzen zufügt, würde es alle Vorteile des Geboren-Werdens nicht für wert erachten. So ähnlich sollten wir uns fühlen, wenn es um unsere Beziehung zu Gott geht. Wir wissen, daß Gottes Schöpfung ein unglaublicher Akt der Güte ist. Wir sind uns aber nicht sicher, sagt der Talmud, ob wir Gefühle des Bedauerns haben sollten, erschaffen worden zu sein. Denn Schöpfung bedeutet, Gott als Folge der Sünde Schmerzen zu bereiten.
Im Talmud schließen wir – von unserem menschlichen Standpunkt aus gesehen – daraus, daß wir die Existenz nicht gewählt hätten, da sie in gewissem Maße Sünde und die Enttäuschung Gottes mit sich bringt. Aber nachdem Gott uns erschaffen hat, »sollten wir unsere Taten prüfen und läutern«. Wir müssen das Äußerste tun, die Sünde zu vermeiden, um Gott so wenig wie möglich Schmerzen zu bereiten und zu mißfallen.
Gott ist nicht bloß ein ferner Schöpfer. Er ist ein liebevoller Vater. Wir müssen uns dessen immer bewußt sein. Es ist natürlich, daß Kinder ihren Eltern gefallen wollen. Wir sollten stets bemüht sein, unserem Vater im Himmel zu gefallen.

Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Aish HaTorah, Jerusalem/Israel
www.aish.com

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