Niemand wusste, wohin die Fahrt ging. Viele Leute kannten natürlich die Strecke Frankfurt-Kassel-Berlin, doch hatte keiner eine Ahnung davon, dass Weimar, die Stadt Goethes, das Ziel dieses Schreckens-Zuges war. Gegen 6 Uhr früh rangierten die Waggons dort an und hielten an einem abseits gelegenen Perron, der zu beiden Seiten von Polizisten in Stahlhelm und Karabinern bewacht wurde. Die Türen wurden aufgeschlossen, und auf das Kommando »Alles heraus!« ging die Jagd los. Wir mussten an der Ehrengarde mit dem Hut in der Hand, die Treppen herunter, einen riesig langen Tunnel entlanglaufen, der wiederum in einem kleineren Tunnel endete. Die Szenen, die sich dabei abspielten, sind schwerlich zu beschreiben. Unter den gemeinsten und obszönsten Schimpfworten wurde den Leuten der Weg von diesen Barbaren versperrt, das Bein gestellt, damit sie hinfielen, und dann wurde auf die Menschen mit Seitengewehr, Karabinerkolben losgeschlagen. Es gab Faustschläge ins Ge-sicht, manche wurden sogar die Treppen hinuntergeworfen. Viele wurden jämmerlich schon hier auf das Gemeinste misshandelt. Ich war direkt an der Spitze dieses Stafettenlaufes und fiel deshalb nicht über verletzte Leidensgenossen, sondern rannte bis ans Ende des Tunnels beziehungsweise in den kleineren Teil, wo wir uns in Zehnerreihen an die Wand stellen mussten und in dieser Minute alle der Meinung waren: Jetzt werden wir erschossen.
Den Zurufen der Gestapo-Leute war dies tatsächlich so zu entnehmen, und jeder in unserer Verfassung hätte dies auch angenommen. So standen wir, eng gegeneinander gepresst, ängstlich der harrenden Minuten, unter schwerem Herzklopfen, doch mit ungebrochenem Mut, immer mit dem Bewusstsein, wenn es sein muss – zu sterben. Die Lippen stammelten ein letztes Stoßgebet, um noch etwas Mut zu geben, vielleicht Gott um Beistand zu bitten. Dies waren wirklich schlimme Minuten, die endlos währten, bis dann das Kommando ertönte »Abschwirren!«, und wir daraus entnahmen, dass doch nichts Schlimmeres bevorstand. Nun ging es reihenweise, wiederum an Polizisten in glei-cher Weise wie beim Empfang vorbei, hinein in bereitstehende große Überfallwagen mit Bänken für 80 bis 100 Mann. Wir kletterten hinein und mussten uns hinsetzen, mit dem Kopf tief heruntergebückt. Denn beim Chauffeur saß ein Gestapo-Mann, welcher umbarmherzig mit seinem Seitengewehr auf die Köpfe derjenigen schlug, die ihm nicht tief genug erschienen. Es war strengstens verboten, den Kopf zu drehen, um feststellen zu können, durch welche Gegenden der Wagen fuhr. Die Segeltuchvorhänge wurden heruntergeschlagen und von außen mit den Sperrketten dagegen geschlagen, sodass an den Seiten sitzende Leute getroffen wurden.
Nach etwa einer Dreiviertelstunde stoppte der Wagen, und unser Endziel war erreicht. Wir wurden von Gefangenen in blauer Kleidung und Militärstiefeln, den sogenannten Kapos, empfangen und in Blocks in Reih und Glied aufgestellt. Dann wurden an uns nach einiger Zeit Zettel verteilt, mit Nummern versehen, die wir einstecken mussten, und uns wurde angedroht, bei Verlust derselben stehe darauf die Todesstrafe. Soweit man um sich blick-te, sah man nur Männer, und wie man nachher feststellte, alle mit geschorenen Köpfen. Auch wir kamen an die Reihe und bald fiel der Stolz unseres Geschlechtes der Schermaschine zum Opfer. Auch die Bärte und Schnurrbärte mussten daran glauben. So standen wir an diesem Tage auf dem Platz von morgens bis abends ohne Wasser und ohne irgendetwas zu essen.
Am Abend gingen Gefangene mit riesigen Kesseln herum, und es gab endlich etwas für den Magen. Kartoffeln mit einem Fleischragout, das sich später als Walfischfleisch herausstellte und worauf dann fast alle Durchfall bekamen. Das Essen war mit Soda oder Alaun gewürzt, um die Tätigkeit der Geschlechtsdrüsen zu vermindern, aus Gründen, die sich wohl jeder sicherlich denken kann.
Endlich nach diesem stundenlangen Stehen rückten die Kolonnen, die beim Passieren des kleinen Tors wie das liebe Vieh gezählt wurden, in das kleine Lager ab, und wir wurden unserem Schicksal überlassen. Es waren fünf Baracken im Waldboden errichtet, der so durchgeweicht war, dass man tief hineinsank und die Schuhe voller Lehm hingen. Wer schlechte Schuhe mit dünnen Sohlen hatte, blieb in diesem Morast stecken.
Die Holzbaracken waren circa 80 Meter lang, im Innern in zwei Hälften getrennt. Links und rechts waren die Hälften durch Holzgestelle vom Boden bis zur Decke in vier beziehungsweise fünf Stockwerke geteilt, die mit Holzplanken ausgelegt für kurze oder längere Zeit unsere einzige Lagerstätte bildeten. Je zwei Gänge führten an diesen Stockwerken entlang, und wer wie ich unterm Dach hauste, musste sich wie ein Affe an vorstehenden Balken hinaufziehen und hinaufklettern. Für Sportler weniger schwierig, doch für ungelenkige Leute und ältere Menschen gar nicht so einfach. In der schwachen Beleuchtung war es außerdem zusätzlich riskant, und es gab Fälle, wo Leute sechs Meter herunterfielen und sich das Genick brachen.
Es war das reinste Inferno Dantes. Ein Brodeln von Stimmen, ein Schreien, ein Summen und ein Sausen, das nur durch die Angst um das liebe Leben hervorgerufen werden kann. Die Luft, mit Holzstaub vermengt, machte das Atmen schwierig, die Kehle, die Zunge, die Lippen vertro-cknet und ausgedörrt – es gab kein Wasser! Dieser Wassermangel und die Angst machten viele Leute wahnsinnig, sie verloren die Nerven. Und diese Menschen peitschten die Übrigen durch ihre wahnsinnigen Schreie auf. Rufe wie »Die Bara-cke stürzt ein« oder »Sie zünden die Bara-cke an« waren das Signal für die durch das Lager patrouillierenden SS-Leute, sich aus der Baracke die größten Schreier herauszuholen und sie außerhalb mit Peitsche und Fußschlägen so lange zu misshandeln, bis aus der Kreatur kein Ton mehr herauskam. Oder sie wurden auf den Bock geschnallt und mit Peitschenschlägen zur Stille gebracht. Die Schreie und das Heulen dieser armen Opfer konnte man ähnlich dem Heulen der Schakale in der Wüste bis in unsere Baracke hören. Jetzt mach- te sich auch der Durchfall bemerkbar, und da niemand die Baracken unter Todesandrohung verlassen durfte, war dies auch ein Faktor, die Gemütlichkeit zu vermindern. Hieß es doch sogar, wenn es keine Ruhe gibt, schießt die SS mit dem Maschinengewehr in die Baracken.
In dieser Nacht gab es viele Tote, die teils so misshandelt wurden, dass sie sofort starben oder an den Misshandlungen zugrundegingen, da keine ärztliche Hilfe da war. Als man am Morgen endlich aus der Baracke in die kühle Luft hinauskam, lag der Weg zwischen den Baracken voller Opfer.
Werner Schleyer