Sachsen

Feigenblatt der DDR

Das jüdische Leben in Sachsen konnte sich nach dem Zweiten Weltkrieg nur zaghaft entwi-
ckeln. In Leipzig und Dresden gründeten sich mit jeweils knapp 200 Mitgliedern neue Gemeinden, in Chemnitz waren es nur 57 Juden. Die Abwanderung aus Angst vor stalinistischen Methoden und Überalterung ließen die Gemeinden weiter schrumpfen. Zum Ende der DDR waren in Leipzig 30, in Dresden 61 und in Chemnitz nur noch zwölf Mitglieder übrig. 20 Jahre nach dem Mauerfall ist Zeit zum allgemeinen Gedenken. Im Speziellen nehmen die jüdischen Gemeinden dies zum Anlass, um über das Thema »Juden in der DDR« zu diskutieren.

desinteresse Gesagt, getan. Bereits vor einem Monat traf man sich in Chemnitz, um drei Stunden lang vor wenigen Zuhörern das Thema zu diskutieren. Einige hielten es nicht bis zum Schluss durch. Doch ganz und gar nicht müde wirkte eine Frau im Publikum: Renate Aris mischte sich ein, hinterfragte, redete mit. Sie hat erlebt.
Als Tochter eines religiösen jüdischen Kaufmanns 1935 in Dresden geboren, er-
lebte sie die Judenverfolgung. So hat sie, obwohl damals erst drei Jahre alt, noch immer das Bild der brennenden Dresdner Sempersynagoge in Erinnerung: »Ich habe deutlich das Entsetzen der Erwachsenen gespürt!« Die Bombardierung Dresdens durch die Alliierten bewahrte Renate Aris, ihre Mutter und ihren Bruder vor der eigenen Deportation. Im Chaos der brennenden Stadt konnten sie wie viele andere Juden untertauchen und überlebten.
Ein geregeltes Leben begann jedoch erst nach dem Krieg. Mit zehn Jahren besuchte sie erstmalig die Schule. »Da war mein Ziel nur noch: lernen, lernen, lernen«, erinnert sich Renate Aris. Sie schaffte es auf die Oberschule, absolvierte eine Dameschnei-
derlehre und die Meisterschule im Kos-
tümhandwerk. Später leitete sie die Kos-
tümabteilung in zwei Theatern, bis sie 1969 für eine Stelle im größten Farbfernsehstudio der DDR nach Karl-Marx-Stadt, wie Chemnitz damals hieß, zog.
Ihrem Vater zuliebe blieb sie noch bis zu dessen Tod Mitglied der Dresdner Ge-
meinde, engagierte sich religiös aber in ihrem neuen Wohnort. »Chemnitz hatte keine Synagoge und blieb so eher unbemerkt«, erklärt Renate Aris. Regelmäßig sei man im Bus zum Gottesdienst nach Leipzig oder Dresden gefahren. Sie ist sich bewusst, dass es ihr als Jüdin in der DDR relativ gut ging. Als Verfolgte des Naziregimes hatte sie Vergünstigungen, zum Beispiel einen bezahlten jüdischen Feiertag. Anfeindungen habe sie nie erlebt.
Antisemitisches hat Ramon Anusiewicz zu DDR-Zeiten nur von Offizieren während seines Wehrdienstes zu hören bekommen. Auch er hat gespürt, dass das Judentum unter den sonst als Opium fürs Volk diskreditierten Religionen eine Ausnahme in der DDR darstellte: »Die paar Juden wa-
ren gewissermaßen das Feigenblatt.« Nur für Israel habe man nicht sein dürfen. »Ich erinnere mich noch an den SED-Jargon: ›Israel ist die imperialistische Speerspitze der USA im Nahen Osten‹«, zitiert er.
In Dresden, wo Renate Aris die erste Batmizwa nach dem Krieg feierte, fand 1951 auch seine Britmila als eine der ersten nach dem Holocaust statt. Im Ge-
gensatz zu seinem Großvater, der 1916 aus Warschau zugewandert war, und seinen Eltern, die vor den Nazis erst nach Paris und dann nach Südamerika geflüchtet waren, konnte er in seiner Heimatstadt bleiben. Viel Raum habe das Jüdische in der DDR nicht eingenommen. Ramon Anusiewicz erinnert sich noch an jüdische Ferienlager, sonst habe sich das Gemeindeleben auf die Hohen Feiertage beschränkt. Für die Wende demonstrierte er. Ramon Anusiewicz wünschte sich politische und wirtschaftliche Freiheit.

aufklärungsarbeit Renate Aris ging mit der Wende in Rente. Im Glauben blieb sie engagiert. »Ich gehe nicht vor Frömmigkeit krumm, aber ich liebe diese Religion«, bekräftigt sie. Renate Aris ist Mitglied im Präsidium des Landesvorstandes der jüdischen Gemeinden im Freistaat Sachsen, wirkte 15 Jahre in der Gemeindeleitung und zwei Jahre als Vorsitzende des Gemeinderates in Chemnitz und gründete 1999 den Jüdischen Frauenverein neu. Sorgen bereitet ihr die Aufklärung der Jugend: »Sie hören erst in der 8. Klasse vom Holocaust. Viel zu spät! Da haben sich manche schon der braunen Horde angeschlossen.« Deshalb ist sie ständig ehrenamtlich unterwegs, hält Vorträge, macht Führungen. »Wer soll es denn sonst tun«, mahnt sie. »Nach meiner Generation ist es nur noch tote Geschichte.«
Seitdem er seit 2002 Betreiber des Café Schoschana im Dresdner Gemeindezentrum ist, hat Ramon Anusiewicz eine ähnliche Mission: »Wir verstehen uns als Mittler zwischen der Gemeinde und der nichtjüdischen Umwelt.« Seine Gäste seien überwiegend Touristen. Zwar ist er schon lange Gastronom, das Wissen über koschere Speisen hat er sich aber erst aneignen müssen.
Er hat gewissermaßen die neuen Freiheiten nach der Wende genutzt, um seinen jüdischen Wurzeln näherzukommen. Starkes Interesse beobachtet er auch bei seiner Tochter, nach deren hebräischem Name er und seine Frau übrigens ihr Café benannt haben: »Sie feiert regelmäßig Schabbat und reist sogar in die USA, um dort in größerer jüdischer Gemeinschaft die Chanukka-Stimmung zu erleben.« In Bezug auf das aktuelle Verhältnis Deutschlands zum jüdischen Leben ist Ramon Anusiewicz sehr zufrieden. »Der Staat geht an sehr vielen Stellen auf jüdische Belange ein, und ohne finanzielle Unterstützung könnten heute nicht so viele Synagogen entstehen«, meint er dankbar.

Nehmermentalität Weiter resümiert er: »Wenn es die Wende nicht gegeben hätte, wäre das Judentum im Osten Deutschlands wohl schon erloschen.« Die Zuwanderer aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion lösten das demografische Problem der sächsischen Gemeinden. »Zu den ersten gab es intensiven persönlichen Kontakt«, erinnert sich Renate Aris. Die unterscheidenden Wörter »Alteingesessene« und »Kontingentflüchtling« hört sie gar nicht gern. »Jeder ist ein Gemeindemitglied«, sagt sie.
Ramon Anusiewicz empfindet die Situation innerhalb der Gemeinde als kritisch. »Das Gros der Zuwanderer nimmt mehr, als es gibt«, sagt er. »Das religiöse Leben wird überwiegend von einigen deutschen Konvertiten und von denen getragen, die schon vor der Wende aktiv in den Gemeinden waren.«

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