Porträt der Woche

Zwischen den Welten

»Ich kam aus schwierigen Verhältnissen – als Teenager gefiel es mir auf den Machanot besser als zu Hause«: Beatrice Remmert lebt in Wiesbaden. Foto: Michael Schick

Porträt der Woche

Zwischen den Welten

Beatrice Remmert wuchs in Israel auf und betreut ein Altenpflegeprojekt in Afrika

von Gerhard Haase-Hindenberg  09.07.2018 18:43 Uhr

An meine Ankunft in Israel erinnere ich mich noch genau, obwohl es fast 50 Jahre her ist. Nachdem ich aus dem Flugzeug gestiegen war, musste ich an der Passkontrolle meinen deutschen Pass abgeben und bekam einen vorläufigen israelischen Personalausweis. Aber das hat mich kein bisschen belastet. Im Gegenteil. Ich habe mich auf der Stelle zu Hause gefühlt, obwohl ich noch nichts vom Land gesehen hatte. Man brachte mich nach Nitzanim in der Nähe von Aschkelon, wo damals in einem landwirtschaftlichen Internat vorwiegend Kinder waren, deren Eltern nicht in Israel lebten.

Viele von ihnen kamen aus ähnlich problematischen Familienverhältnissen wie ich. Meinen leiblichen Vater habe ich nie kennengelernt. Als ich ein kleines Mädchen war, hat meine Mutter geheiratet, und plötzlich stand das Judentum im Hause. Ihr Mann, der nun mein Stiefvater wurde, hatte angeblich entdeckt, dass er väterlicherseits jüdischer Herkunft war. Meine Eltern wurden von Rabbiner Levinson konvertiert, und so wurde auch ich jüdisch.

Um ehrlich zu sein, hab ich mich nicht für die Herkunft meines Stiefvaters interessiert. Zwischen uns bestand keine harmonische Beziehung. Ich wurde sehr streng orthodox erzogen. Dazu gehörte, dass ich zu den jüdischen Feiertagen von der Schule befreit wurde. Das aber hatte zur Folge, dass ich als Kind die Repressalien meiner »freundlichen« Mitschüler und Mitschülerinnen zu erdulden hatte.

Es fielen Bemerkungen wie: »Du willst dich doch nur drücken, du faule Judensau!« Umso mehr freute ich mich auf die Machanot in Bad Sobernheim und in Wembach, wo ich jeden Sommer die gesamten Ferien verbrachte. Hier war ich unter jüdischen Kindern aus ganz Deutschland. Das jüdische Leben auf den Machanot hat mir besser gefallen als das Leben zu Hause.

Meine Familie wohnte erst in Bonn und danach in Koblenz. Dort gab es noch fünf weitere jüdische Kinder in meinem Alter, aber wir gingen nicht zur selben Schule. Einige Zeit nach meiner Batmizwa schlug die Koblenzer Gemeinde angesichts des problematischen Verhältnisses zu meinen Eltern vor, mich in Israel zur Schule zu schicken. Sie würden die Kosten übernehmen, meine Eltern sollten mir nur das Taschengeld geben. Da war ich 14 Jahre alt.

brüder Hebräische Buchstaben hatte ich ja schon durch den Siddur lesen gelernt, aber ich verstand natürlich kein Wort, als ich nach Israel kam. Deshalb ging es erst einmal in den Ulpan. Dort saß ich nun mit anderen jüdischen Kindern, deren Muttersprache Hindi, Schwedisch, Arabisch oder irgendeine andere war. Da wir uns miteinander unterhalten wollten, war unsere Motivation schnell geweckt, gemeinsam Iwrit zu lernen. Nach drei Monaten konnten wir schon in ganz normale Klassen eingegliedert werden.

Heimweh stellte sich keines ein. Auch deshalb nicht, weil ich eine Ersatzfamilie bekam. Noch in Koblenz war mir von meiner Mutter gesagt worden, dass sich außerhalb des Internats ein Ehepaar um mich kümmern würde. Wenn ich mich recht entsinne, kannten sie den Hausarzt meiner Eltern. Gemeinsam mit ihren beiden Söhnen haben sie mich auf meinem Weg ins Erwachsenenleben begleitet. Bis heute stehe ich mit meinen »Brüdern« und deren Familien in Kontakt.

Nach der mittleren Reife verließ ich die Schule. Und weil ich in eine pubertäre Identitätskrise geschlittert war, bin ich erst einmal nach Deutschland zurückgegangen. Für meine Eltern war das ein Schock. Nun musste ich ja irgendetwas tun, und so habe ich in einem sehr noblen Hotel in Koblenz eine Lehre zur Hotelkauffrau begonnen. Ich war weiterhin umtriebig, und schon bald bin ich, ohne die Ausbildung abzuschließen, wieder nach Israel zurückgegangen. Durch meine dortige Familie fand ich eine Arbeit an der Rezeption vom Hotel Goldar in Netanja – bis mich abermals die Ruhelosigkeit packte. Jedenfalls bin ich wieder nach Deutschland zurückgeflogen und habe verschiedene Tätigkeiten ausgeübt.

Arbeiterwohlfahrt Den ersten Schritt in ein etwas geregelteres Leben machte ich, als ich mich im Alter von 27 Jahren dazu entschloss, in Mannheim eine Ausbildung zur Altenpflegerin zu absolvieren. Nach dem Abschluss dieser Ausbildung begann ich hier in Wiesbaden in einem Pflegeheim der Arbeiterwohlfahrt zu arbeiten. Daraus hat sich dann nach und nach eine Laufbahn entwickelt – von der Altenpflegerin über die Stationsleitung zur Pflegedienstleitung bis zur stellvertretenden Geschäftsführerin. Übrigens sind mir nirgendwo so viele Philosemiten über den Weg gelaufen wie in meinen 33 Arbeitsjahren bei der Arbeiterwohlfahrt. Viele meiner Eigenschaften wurden als »typisch jüdisch« interpretiert.

Es fielen aber auch Bemerkungen wie »Ach, du bist Jüdin? Das sieht man dir ja gar nicht an!« Beruflich aber war ich angekommen. Persönlich angekommen war ich, als meine Tochter geboren wurde und ich drei Jahre später meinen jetzigen Ehemann kennenlernte. Obgleich er sich als »nichtjüdischer Atheist« versteht, haben wir eine Mesusa am Eingang zur Wohnung angebracht, feiern die jüdischen Feste, und er kommt auch regelmäßig mit nach Israel. Im nächsten Jahr werden wir Silberhochzeit feiern.

israel
Schon immer habe ich vom Judentum das weitergegeben, was ich wusste. Während meiner Altenpflegeausbildung habe ich in Worms gelegentlich Führungen durch die fast 1000 Jahre alte Synagoge gegeben. Zu jener Zeit befand sich in Worms – neben Mainz und Speyer eine der drei SchUM-Städte – eine der größten jüdischen Gemeinden Europas.
Als ich dann nach Wiesbaden zog und meine Tochter geboren wurde, wollte ich schon meines Kindes wegen in der hiesigen Gemeinde aktiv werden. Inzwischen bin ich schon einige Jahre im Gemeindevorstand, der übrigens ohne Vorsitzenden auskommt.

Bei uns sind alle Vorstandsmitglieder gleichberechtigt.
Israel bedeutet mir sehr viel und ist für mich nach wie vor ein Stück Heimat. Es ist der Ort, an dem ich so viel hupen und diskutieren kann wie ich will, ohne merkwürdige Reaktionen erwarten zu müssen. Die israelische Mentalität ist einfach anders als die deutsche, doch wenn ich auf einer Behörde stundenlang warten muss, nur um einen Ausweis verlängern zu lassen, dann nervt mich das schon. Hier in Deutschland aber habe ich oft das Gefühl, ich lebe auf gepackten Koffern, wenn der alte Antisemitismus mal wieder auf sich aufmerksam macht. Nun bin ich Rentnerin und kann tun, was ich will. Und wenn mir hier etwas zuviel wird, dann nehme ich meinen israelischen Pass und fliege nach Tel Aviv. Aber nicht nur dorthin.

Als ich noch bei der Arbeiterwohlfahrt arbeitete, hatte meine Chefin mit einer ehemaligen Schulkollegin Kontakt, die inzwischen in Ghana als Frauenärztin praktiziert. Diese Frau suchte nach Sponsoren, um eine Altentagesstätte zu errichten. Die Arbeiterwohlfahrt unterstützte das Projekt damals mit 10.000 Euro. Normalerweise überweist man das einem Förderverein, in diesem Fall der »Altenhilfe Afrika« in Bonn. Ich aber wollte wissen, was genau mit dem Geld passiert, und bin dorthin geflogen, um mir das Projekt vor Ort anzuschauen.

Ghana Inzwischen war ich schon dreimal in Ghana und habe dort den Bau der Tagesstätte verfolgt und mitgeholfen, personelle wie logistische Lösungen zu finden. Mir wurde klar, dass eine Einrichtung in Ghana gar nicht so funktionieren kann wie in Deutschland. Nun hatte ich schon in Israel gelegentlich Altentagesstätten besucht – und die standen mir plötzlich als Vorbild vor Augen.

Dabei ist der Unterschied der, dass man in Israel, anders als in Deutschland, keinen hundertprozentigen Versorgungsanspruch hat. Vielmehr gibt man dort den Leuten die Möglichkeit, eigenständig zu Hause zu leben, und die Altentagesstätte unterstützt einen bei der ärztlichen Versorgung und anderen Dingen. Außerdem gibt es dort auch ein kulturelles Angebot. Das dient vor allem dem Zweck, dass die Alten nicht allein zu Hause vereinsamen.

In Ghana wiederum bringt aus jeder Familie jemand etwas zu essen mit – das wäre bei unseren Einrichtungen hier gar nicht denkbar. Inzwischen habe ich die Gelegenheit bekommen, das Projekt dem israelischen Botschafter in Ghana vorzustellen, der eine ganze Reihe von Projekten unterstützt. Er konnte Kontakte herstellen, wie zum Beispiel zu jemandem, der Plastikstühle produziert und einige davon spendete. Ich habe inzwischen ein Curriculum geschrieben, was die ehrenamtlichen Helfer an Ausbildung benötigen. Im nächsten Jahr werde ich wieder nach Ghana reisen, um zu sehen, was sich weiterentwickelt hat. Irgendwie bin ich wohl immer eine Umtriebige geblieben.

Aufgezeichnet von Gerhard Haase-Hindenberg

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