Stuttgarter Schulderklärung

»Wir klagen uns an«

Die Mitglieder EKD-Rates: Martin Niemöller, Wilhelm Niesel, Ratsvorsitzender Theophil Wurm, Hans Meiser, Heinrich Held, Hanns Lilje und Otto Dibelius (v.l.) Foto: dpa

Deutschland, 1945. Die Städte liegen nach dem Zweiten Weltkrieg in Trümmern, die braunen Parolen vom »Endsieg« sind verhallt. Wie sollte die evangelische Kirche auf diesen Zusammenbruch reagieren – eine Kirche, die sich in Teilen mit der nationalsozialistischen Sache gemein gemacht hatte?

Am 19. Oktober 1945 unterzeichneten protestantische Bischöfe und Kirchenpräsidenten in Stuttgart ein Schuldbekenntnis, das gleichzeitig einen Neuanfang signalisiert. Damit ernteten sie vor 70 Jahren einen Sturm der Entrüstung. »Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden«, heißt es in dem Dokument. »Wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.«

bekenntnis Zu den Unterzeichnern gehören amtierende und spätere Landesbischöfe sowie der spätere Bundespräsident Gustav Heinemann. Verfasst wurde das Papier von Mitgliedern des Rats der neu gegründeten Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD): Christian Asmussen, Otto Dibelius und Martin Niemöller.

Der EKD-Rat stand bei seiner Oktober-Sitzung unter Druck. Hochrangige Kirchenvertreter aus Ländern, gegen die kurz zuvor noch Krieg geführt worden war, hatten sich nach Stuttgart aufgemacht, um die Beziehungen zu den evangelischen Kirchen wieder aufzunehmen. Doch dazu brauchte es ein klar wahrnehmbares Zeichen des deutschen Protestantismus, das die Mitverantwortung für die NS-Verbrechen deutlich machte. Das sollte das Stuttgarter Schuldbekenntnis leisten.

Dennoch ist die Erklärung nicht nur ein taktisches Papier, betont der Münchener Historiker Harry Oelke, Vorsitzender der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte. Ein Bewusstsein für die Verstrickungen der Kirche in den Nationalsozialismus und ein persönliches Schuldempfinden habe sich bei einigen Ratsmitgliedern schon in den Monaten vor der Erklärung gezeigt. Dass der Besuch ausländischer Kirchenvertreter den Prozess hin zu einem Schuldbekenntnis aber beschleunigt hat, steht für Oelke außer Frage.

Probleme Inhaltlich bietet das Schuldbekenntnis aus heutiger Sicht einige Probleme. So ist der Massenmord an den Juden mit keiner Silbe erwähnt. Die Formulierungen im Komparativ (»nicht mutiger«, »nicht treuer«, »nicht brennender«) können so verstanden werden, dass durchaus viel Mut, Treue und Brennen vorhanden gewesen seien, aber eben nicht genug.

Die Verstrickungen mit dem Regime und das unselige Wirken der »Deutschen Christen« sowie der Antisemitismus in der Kirche finden keine Erwähnung. Unpräzise bleibt zudem, wer überhaupt mit dem »wir« in der Erklärung gemeint ist – nur die Unterzeichner oder alle Evangelischen oder gar das ganze deutsche Volk?

Innerhalb Deutschlands traf das Dokument zum Teil auf heftige Ablehnung. Im hannoverschen Kirchenamt füllten die Protestbriefe ganze Kartons. Menschen fühlten sich für Verbrechen in Mithaftung genommen, obwohl sie sich unschuldig wähnten. In ihrer Selbstwahrnehmung waren sie Opfer, nicht Täter.

Folgen Außerhalb Deutschlands zeigte das Bekenntnis den gewünschten Erfolg. Kirchengemeinden etwa in den USA schickten Hilfspakete an die ausgebombten Glaubensgeschwister. Auch einer Rehabilitierung deutscher Protestanten und einer Mitarbeit in weltweiten ökumenischen Gremien wurde der Weg gebahnt.

Nach Ansicht des Zeitgeschichtlers Oelke hat die Stuttgarter Schulderklärung darüber hinaus eine immense Langzeitwirkung. Das Dokument stehe am Anfang einer Kette von Beschlüssen, die das demokratische Denken tief im Protestantismus verankert haben. Diese demokratischen Ansätze habe es in der regimekritischen »Bekennenden Kirche« noch nicht gegeben. Außerdem habe die evangelische Kirche ihre »Wächterfunktion« entdeckt, mit der sie seitdem die Politik kritisch begleite.

Friedrichshain-Kreuzberg

Antisemitische Slogans in israelischem Restaurant

In einen Tisch im »DoDa«-Deli wurde »Fuck Israel« und »Free Gaza« eingeritzt

 19.04.2024

Pessach

Auf die Freiheit!

Wir werden uns nicht verkriechen. Wir wollen uns nicht verstecken. Wir sind stolze Juden. Ein Leitartikel zu Pessach von Zentralratspräsident Josef Schuster

von Josef Schuster  19.04.2024

Sportcamp

Tage ohne Sorge

Die Jüdische Gemeinde zu Berlin und Makkabi luden traumatisierte Kinder aus Israel ein

von Christine Schmitt  18.04.2024

Thüringen

»Wie ein Fadenkreuz im Rücken«

Die Beratungsstelle Ezra stellt ihre bedrückende Jahresstatistik zu rechter Gewalt vor

von Pascal Beck  18.04.2024

Berlin

Pulled Ochsenbacke und Kokos-Malabi

Das kulturelle Miteinander stärken: Zu Besuch bei Deutschlands größtem koscheren Foodfestival

von Florentine Lippmann  17.04.2024

Essay

Steinchen für Steinchen

Wir müssen dem Tsunami des Hasses nach dem 7. Oktober ein Miteinander entgegensetzen

von Barbara Bišický-Ehrlich  16.04.2024

München

Die rappende Rebbetzin

Lea Kalisch gastierte mit ihrer Band »Šenster Gob« im Jüdischen Gemeindezentrum

von Nora Niemann  16.04.2024

Jewrovision

»Ein Quäntchen Glück ist nötig«

Igal Shamailov über den Sieg des Stuttgarter Jugendzentrums und Pläne für die Zukunft

von Christine Schmitt  16.04.2024

Porträt der Woche

Heimat in der Gemeinschaft

Rachel Bendavid-Korsten wuchs in Marokko auf und wurde in Berlin Religionslehrerin

von Gerhard Haase-Hindenberg  16.04.2024