Wenige Tage vor Rosch Haschana stehen auch heuer die Herausforderungen des neuen Jahres besonders im Fokus. Für uns als jüdische Gemeinschaft bedeutet das vor allem, dass wir uns aller Voraussicht nach auch weiterhin in unsicherer Lage und inmitten einer aufgeheizten gesellschaftlichen Stimmung zu behaupten haben werden.
Diese Aufgabe stellt sich uns mit wachsender Dringlichkeit bald zwei Jahre nach dem 7. Oktober als dem Tag, der das Leben einer ganzen jüdischen Generation verändert hat. Was in und um Israel geschieht, das bekommen wir in der Diaspora sehr genau zu spüren. Überall in der westlichen Welt ist aus der anfänglichen Solidarität mit dem überfallenen jüdischen Staat ein veritabler Sturm von Kritik und teils blindem Hass auf Israel geworden.
Die Beispiele mehren sich: Unter anderem Frankreich und Großbritannien wollen demnächst wider besseres Wissen die palästinensische Autonomiebehörde als Staat anerkennen. Die Präsidentin der Europäischen Kommission kündigt unter dem Jubel der Abgeordneten im Europaparlament das Einfrieren von Zahlungen an Israel an und spricht von Sanktionen. Und niemand Geringeres als der deutsche Bundeskanzler verhängt einen Teilstopp von Waffenlieferungen an Israel.
Dass solche Maßnahmen in Jerusalem viel ausrichten werden, ist mindestens zweifelhaft. Mein persönlicher Eindruck ist zudem, dass Israel umgekehrt nur noch wenig tun oder lassen kann, um das Meinungsbild hierzulande zu beeinflussen. Eine negative Wahrnehmung bestimmt die hiesige Debatte, die längst viel festgefahrener und statischer ist als in Israel selbst, wo unverändert intensiv diskutiert wird.
Eine negative Wahrnehmung bestimmt die hiesige Debatte
Ein so einseitiges Bild ignoriert nicht nur die Ursachen des aktuellen Krieges, den es ohne die Ermordung von 1200 Menschen in und die Verschleppung von 250 weiteren aus Israel nach Gaza durch die terroristische Hamas niemals hätte geben müssen. Diese tragische Entwicklung führt auch dazu, das Level der Bedrohung für die jüdischen Gemeinschaften in der Diaspora noch einmal merklich zu erhöhen. So relativ ruhig die Lage hier noch ist: Das gilt auch bei uns in München.
Wie können, wie sollen wir uns etwa fühlen, wenn Gerichte aggressiven antiisraelischen Demonstranten eine Marschroute in Sichtweite unserer Hauptsynagoge gestatten? Was sendet es für eine Botschaft, wenn bayerische Museen antisemitische Motive auf ihre Broschüren drucken?
Was soll man überhaupt noch dazu sagen, wenn die Münchner Ortsgruppe von »Fridays for Future« sich wortreich für die extremistischen Israelhasser von »Palästina Spricht« in die Bresche wirft? Und: Welche Rolle sollen bei alledem gerade junge jüdische Menschen für sich in dieser Gesellschaft sehen? Wenn die Vorsitzende des Verbandes jüdischer Studenten in Bayern, Jessica Flaster, an dieser Stelle kürzlich damit zitiert wurde, Ziel ihrer Organisation bleibe es, »das Beste aus der Situation zu machen«, dann lässt mich das nicht kalt. Ich kenne Frau Flaster und weiß, dass sie die kämpferische Natur des Studentenverbandes verkörpert. Gerade deshalb muss ein solcher Satz nicht nur uns in der jüdischen Gemeinschaft sehr zu denken geben.
Mit Selbstbewusstsein blicken wir auf die kommenden Monate.
Trotzdem: Von der Weigerung der jungen Menschen, nur das Schlechte zu sehen, müssen wir lernen. Denn Fakt bleibt, dass wir weiterhin Freunde haben, und zwar in der Politik ebenso wie in der breiten Gesellschaft. Als etwa vergangene Woche ein zuvor wenig bekanntes belgisches Festival aufgrund des israelischen Dirigenten Lahav Shani zum Kulturboykott gegen die Münchner Philharmoniker blies, war die Zurückweisung dieses plumpen antisemitischen Angriffs auf allen politischen Ebenen klar und eindeutig.
Und als vor einigen Monaten die erwähnte antiisraelische Demonstration knapp am Jakobsplatz vorbeizog, kamen Hunderte Münchner, um einen symbolischen Schutzring um unsere Synagoge zu bilden. Es ist deshalb angesichts von wachsendem Hass auf Israel und Juden sowie der Gefahr durch die rechtsextreme AfD zwar leicht, in Trübsal zu verfallen. Wahlergebnisse und Umfragen erzeugen heute einen Schock nach dem anderen. Aber die jüdische Gemeinschaft wie auch die demokratische Gesellschaft als Ganzes tun heute gut daran, diese Krise mit Selbstbewusstsein zu beantworten. Auch daran müssen wir denken, wenn wir uns fragen, wo wir 5786 stehen werden.
Wahlergebnisse und Umfragen erzeugen heute einen Schock nach dem anderen
Die Zeiten relativer Ruhe von vor zehn oder 20 Jahren kommen in naher Zukunft nicht mehr zurück. Umso wichtiger ist für uns, dass wir wissen, wer wir sind und woher wir kommen. Mit Stolz haben wir deshalb erst vor wenigen Monaten den 80. Jahrestag der Wiedergründung der IKG nach dem Holocaust gefeiert, und erst diese Woche wurde die generalsanierte Synagoge in der Reichenbachstraße eröffnet, ein architektonisches Schmuckstück und historischer Ort nicht nur für unsere Gemeinde.
Wir blicken auf die kommenden Monate deshalb nicht ohne Anspannung – aber auch mit dem Wissen um unsere Stärken und dem Selbstbewusstsein, das daraus erwächst. Für das neue Jahr wünschen wir uns Stabilität und einen ruhigeren Alltag, insbesondere aber natürlich Frieden für die Menschen in Israel und eine Heimkehr der letzten Geiseln.
In der Hoffnung auf all das wünsche ich Ihnen Schana towa umetuka!