Initiative

»Wir haben eine Win-win-Situation«

Der Mitzvah Day 5776 steht unter dem Motto »Und wenn nicht jetzt, wann dann?« und will seinen Schwerpunkt auf die Hilfe für Flüchtlinge legen.
Dannel: Das Motto steht ja nicht im direkten Zusammenhang mit dem Thema Flüchtlingshilfe, das haben wir uns bereits vorher ausgedacht. Es passt dennoch sehr gut. Die Gemeinden werden die Beziehungen, die sie zum Teil schon in den letzten Jahren geknüpft haben, weiter pflegen.

Immer wieder ist zu hören, dass einzelne Gemeindemitglieder bei Flüchtlingsaufnahmen helfen, ohne sich als Juden zu erkennen zu geben. Gibt es Ängste?
Botmann: Viele in unseren Gemeinden haben Ängste, und diese müssen wir ernst nehmen. Die Ängste bestehen vor allem in Hinblick auf die Sozialisation der Menschen, die aus Syrien kommen. Von klein auf lernen sie, dass Israel ein Feindesstaat ist. In Kinderbüchern und -sendungen werden Juden als Schweine dargestellt. Die Sorgen unserer Gemeindemitglieder sind nicht unberechtigt. Andererseits ist sich die jüdische Gemeinschaft bewusst, dass sie als Teil der Gesamtgesellschaft in der jetzigen Situation selbstverständlich Hilfe zu leisten hat. Viele jüdische Gemeinden haben spontan vor Ort Flüchtlingen geholfen. Es ist ein gutes Zeichen, dass wir sagen: Ja, es gibt Sorgen, es gibt Bedenken, aber bei all dem wissen wir, dass wir der Humanität verpflichtet sind und dass wir helfen.

Wohltätigkeit soll ja auch die innerjüdische Verbindung stärken, wie sehen denn da die Projekte aus?
Botmann: Die klassischen Mitzvah-Day-Projekte wie Besuche in Elternheimen, Aktionen für Kinder und Jugendliche sowie Initiativen für Menschen mit Behinderung bleiben auf jeden Fall bestehen. Wir tun das eine, ohne das andere zu lassen.
Dannel: Es werden etwa Gemeinde- und Begegnungsräume gestrichen. Ein Empowermentprojekt der ZWST für Menschen mit Behinderung repariert Siddurim. Es gibt Einsätze auf jüdischen Friedhöfen und vieles mehr. Gemeinsam etwas tun ist ja per se klassisches community building: Sehr innovativ finde ich den »Warmnachtsbaum« der Münchner Mitzwe Maker. Hier werden selbstgestrickte Schals und Mützen und andere Spenden – mit einem kleinen Gruß versehen – an einen Baum gehängt, und die Bedürftigen können sich die Sachen abnehmen, die sie brauchen können. Es gibt die übliche Bandbreite an Projekten auch in diesem Jahr. Aber es hat sich schnell abgezeichnet, dass Gemeinden auf das aktuelle Thema angesprungen sind.

In Ihrem Rückblick ist zu lesen, dass viele Gruppen nach wie vor in Einrichtungen gehen, die sie in Zusammenhang mit dem Mitzvah Day besucht haben. Wie wichtig ist diese Nachhaltigkeit?
Dannel: Sehr wichtig. Der Mitzvah Day ist bewusst niedrigschwellig angelegt, damit die Menschen sehen, dass sie auch mit kleinstem Einsatz wirklich etwas bewirken können, mit ein wenig Zeit, die sie aufwenden. Es soll natürlich auch den Geschmack wecken nach mehr. Wir brauchen in den Gemeinden viele Freiwillige und sehen Erfolge. So haben sich über den Mitzvah Day schon Bikur-Cholim-Gruppen gegründet. Die Menschen merken, dass ihre Hilfe ankommt. Das gibt jedem Einzelnen ein größeres Mehrwertgefühl für sein jüdisches Leben. Die entstandenen Kontakte und Begegnungen sind wichtig, weil sie dann auch längerfristig wirken können. Außerdem wollen wir mit dem Mitzvah Day Zeichen setzen: nämlich, dass wir unseren Beitrag zur Integration leisten, dass wir auf die Leute zugehen. Eine Gruppe von der Synagoge Oranienburger Straße, die vor zwei Jahren in Hellersdorf Flüchtlingskinder betreut hat und das jetzt im Hedwig-Krankenhaus wieder tut, erzählte mir, dass sie ungläubig gefragt wurde: Seid ihr wirklich jüdisch, warum helft ihr mir?

Werden also möglicherweise Ängste vor den Flüchtlingen durch solche Begegnungen auch ein Stück weit aufgebrochen?

Botmann: Ich denke, es wirkt in beide Richtungen. Einerseits sind die Projekte geeignet, Vorbehalte gegenüber Juden und jüdischen Gemeinden zu verringern. Auf der anderen Seite kann es auch jüdischen Menschen die Scheu nehmen, mit Muslimen in Kontakt zu kommen. Ich denke, der Mitzvah Day ist ein großartiges Projekt, das über gute Taten Menschen zusammenbringt und Brücken baut. Was kann es Besseres geben als das?

Wie können sich die Gemeinden am Mitzvah Day beteiligen?
Dannel: Es gibt die unterschiedlichsten Wege. Manche Gemeindemitglieder rufen an, wie ein Mann aus München, der in einer Alteneinrichtung arbeitet und jetzt mit anderen aus der Gemeinde dort ein Projekt realisieren will. Andere sagen: Wir möchten irgendetwas machen. Und gemeinsam suchen wir am Telefon aus, was passen würde. Viele haben bereits Kontakte, vielleicht, weil sie ohnehin schon regelmäßig das Seniorenheim besuchen, aber dieses Mal den älteren Herrschaften einen ganz besonders tollen Tag bereiten wollen.

Wie helfen die Gemeinden?
Dannel: Viele Gemeinden haben Aktionen für Flüchtlinge vorgesehen, noch bevor das Flüchtlingsthema so akut geworden ist. In Osnabrück hat eine Rebbetzin ein Projekt für die Kindergruppe der Gemeinde initiiert: »Wir helfen Flüchtlingen«. Die Kinder werden zusammen backen und das Backwerk Flüchtlingen spenden. In Köln haben wir bisher zehn Aktionen, davon zwei für Flüchtlinge. Häufig sind es Sammelaktionen. Die Akteure fragen in den Einrichtungen nach, was benötigt wird, und entsprechend sammeln sie. Manchmal gibt es schon Spenden, aber es braucht einfach Manpower, sie zu sortieren. Auch die Bochumer bieten mehrere Aktionen an, darunter eine für das Jugendzentrum und eine auch für Flüchtlinge. In Dortmund gibt es ein neues Young-Leadership-Programm, auch sie führen eine Sammelaktion durch. Der Programmleiter ist hauptamtlich Religionslehrer und erzählte, dass die Flüchtlingsproblematik für die Schüler ein sehr wichtiges Thema ist. Sie wollen helfen und ihren Teil beitragen. Einige kennen Flüchtlingsheime aus der Zeit ihres eigenen Starts in Deutschland.

Welche Flüchtlingsprojekte gibt es bereits?

Botmann: In Saarbrücken wird in Kooperation mit dem Deutschen Roten Kreuz ein Blutspendebus vor der Gemeinde stehen, und der Frauenverein gibt für jede Blutspende noch einmal zehn Euro dazu. Das Geld geht dann an Flüchtlinge. Die Bielefelder haben eine Großküche gemietet und wollen mit Flüchtlingskindern backen und basteln. Es wird also nicht nur für Flüchtlinge etwas gemacht, sondern auch etwas mit ihnen zusammen.

Eines der größten Probleme in den Heimen scheint die Langeweile zu sein …
Botmann: Das ist ein wesentlicher Punkt. Zur Durchführung des Mitzvah Day bedarf es keiner großen finanziellen Mittel, insofern können alle mitmachen und gute Taten vollbringen. Man kann sich mit den Menschen beschäftigen, ihnen eine Freude bereiten, mit ihnen Fußball spielen oder basteln. Das Einzige, was die Menschen bereit sein müssen zu geben, ist ihre Zeit.

Im vergangenen Jahr haben 2000 Freiwillige mit 130 Aktionen am Mitzvah Day teilgenommen …
Botmann: … und dieses Jahr werden wir diese Marke locker übertreffen. Von den Gemeinden bekommen wir das Feedback, dass diejenigen, die beim Mitzvah Day mitgemacht haben, sich danach aktiver in den Gemeinden engagieren. Sie haben gesehen, wie toll es ist, etwas gemeinsam gemacht zu haben. Es ist wirklich eine Win-win-Situation: Was sie machen, tut anderen gut, und es tut auch den Gemeinden selbst gut.

Mit der Initiatorin des Mitzvah Day Deutschland und dem Geschäftsführer des Zentralrats der Juden in Deutschland sprach Heide Sobotka.

Anmeldung zum Mitzvah Day
Wer mitmachen möchte, kann über die Zentralratsseite den Button »Mitzvah Day« anklicken oder sich direkt über mitzvah-day.de oder Facebook melden, anrufen oder eine Mail an mitzvahday@zentralratderjuden.de schreiben. Dabei können eigene Ideen vorgestellt oder mit dem Mitzvah-Team besprochen werden. Nach einer schriftlichen Anmeldung bekommt jedes Team kostenlos ein Basispaket mit T-Shirts, Wimpeln, Aufklebern, Luftballons, Regencapes und Babylätzchen mit dem Mitzvah-Day-Logo zugeschickt. Anschließend erhalten die Gruppen eine Teilnehmerurkunde. Man kann auch in seinem Freundeskreis für Aktionen des Mitzvah Day werben.

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