Bereits seit der Antike bildet die literarische Gattung der Biografie eine Möglichkeit, um historische Ereignisse anhand des Lebens einer Person anschaulich darzustellen. Aus den Bestsellerregalen in den Buchhandlungen sind Biografien nicht wegzudenken, und auch im Kino war das Biopic von Anfang an fester Programmbestandteil. In der modernen Geschichtswissenschaft hingegen wurde die Biografie auch kritisch betrachtet – ein Trend, der sich in den vergangenen Jahrzehnten offenbar geändert hat.
Welche Auswirkungen dieser sogenannte »biographical turn« auf die Entstehung jüdischer Biografien hat, diskutierten in der Rotunde des Münchner Stadtarchivs Ellen Presser, Leiterin des Kulturzentrums der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, und Anton Löffelmeier vom Stadtarchiv München mit den Historikern Philipp Lenhard, Maximilian Strnad, Björn Siegel und Andrea Sinn. Der Jubiläumsband der wissenschaftlichen Zeitschrift für Jüdische Studien »PaRDeS« – von Siegel und Sinn herausgegeben – stellt die jüdische Biografieforschung im 21. Jahrhundert ins Zentrum der Untersuchungen.
Podiumsdiskussion »Erinnerung – Gedächtnis – Kultur«
Er bildete den Anlass für die Podiumsdiskussion »Erinnerung – Gedächtnis – Kultur«, die Andrea Sinn moderierte. Ein Thema von besonders aktueller Bedeutung, wie sich auch im Jüdischen Museum München zeigte. Dort diskutierte am selben Abend Rachel Salamander mit Studierenden über die Frage: »Worüber reden wir, wenn wir von Erinnerungskultur reden?«
Daniel Baumann, Leiter des Stadtarchivs, begrüßte die Gäste, darunter auch Nachfahren von Holocaust-Überlebenden. Dazu präsentierte er das aktuelle Projekt des »Digitalen Lesesaals für das Stadtarchiv« und betonte den Wert der Digitalisierung von Archivalien, warnte aber zugleich vor dem Missbrauch leicht verfügbarer digitaler Daten. In ihrer Einführung betonte Andrea Sinn den derzeitigen Einfluss biografischer Forschung auf die Geschichtswissenschaft. Diese Forschung würde sich von früheren Mahnungen vor der »biografischen Illusion« absetzen.
Ellen Presser reflektierte in ihrer Einführung zur Diskussion über die Rolle der Biografie für jüdische Familien nach dem Zweiten Weltkrieg. Besonders prägend sei dabei die Erfahrung der Lücken innerhalb der eigenen Familiengeschichte. Zwei Wege stünden als Reaktion auf diese Erfahrung offen, so Presser: die vollständige Verdrängung oder die bewusste Auseinandersetzung. »Noch vor 20 oder 30 Jahren hatten die Zeitzeugen keine Chance, gehört zu werden«, merkte sie an.
Biografien sind ohne wissenschaftliche Unterstützung nicht zu bewältigen
Die biografische Arbeit heute konterkariere den Versuch der Nationalsozialisten, das Gedächtnis der jüdischen Menschen auszulöschen. Zugleich seien Biografien ohne wissenschaftliche Unterstützung nicht zu bewältigen: »Man läuft den letzten Splittern hinterher und versucht, sie aufzusammeln.« Auch Philipp Lenhard betonte diesen »ethischen Unterton«, der bei seiner Arbeit am Münchner Lehrstuhl für Jüdische Geschichte und Kultur im Umgang mit den Studierenden ebenfalls mitschwinge.
Es gelte, »die Menschen vor dem Vergessen zu bewahren«. Die Biografie müsse dabei einen Mittelweg bilden zwischen zu starker Individualisierung und einer Generalisierung des einzelnen Lebensweges. Personen müssten als handelnde Individuen begreifbar bleiben.
Wie nahe kommt man einer Person? Und wie schwer ist es, wieder Distanz zu ihr zu finden?
Dass zum Schreiben einer Biografie Mut gehöre, betonte Anton Löffelmeier, der auf die schwierige Balance des Forschenden hinwies: »Wie nahe kommt man einer Person? Und wie schwer ist es, wieder Distanz zu ihr zu finden?« Aus diesem Verhältnis müsse ein verantwortungsvoller Umgang mit den Quellen entstehen, unterstrich auch Björn Siegel. Denn letztendlich gelte es, darin waren sich alle einig, das würdige Andenken an einen oder mehrere Menschen vor dem Abgleiten ins bloße Zurschaustellen zu bewahren.
Digitalisierung von Quellen
Mit der Digitalisierung von Quellen kam ein weiterer wichtiger Aspekt zur Sprache. Dieser Prozess sei nicht mehr rückgängig zu machen, allerdings ergäben sich durch den allgemeinen Zugang zu ehemals privaten Quellen neben rechtlichen Problemen auch ethische Konsequenzen. Maximilian Strnad mahnte deshalb zur Sensibilität, unterstrich aber zugleich, dass die Chancen der Digitalisierung die negativen Aspekte bei Weitem überwögen. Noch längst nicht absehbar sei dagegen, so Philipp Lenhard, welche Rolle dabei die Künstliche Intelligenz im Kontext der Erinnerungskultur spielen und was daraus potenziell folgen könnte.
Ellen Presser kam abschließend auf einen Augenblick der Zeitgeschichte zurück: Der 7. Oktober 2023 müsse als ein dramatischer Einschnitt in den Biografien von heute lebenden jüdischen Menschen aufgefasst werden, wie sie mit Nachdruck hervorhob. »Es handelt sich bei diesem Ereignis durch und durch um eine Retraumatisierung.« Eine wissenschaftliche Aufarbeitung sei dabei gar nicht möglich gewesen und fehle insoweit noch völlig. In diesem Sinne käme der Geschichtswissenschaft künftig die Rolle einer Schlüsselwissenschaft zu, resümierte Björn Siegel. Auch die spezifisch jüdische Biografik erhalte in Zukunft eine neue und veränderte Funktion, die es zu beachten gelte.