Virtual Reality

Virtuelle Charlotte Knobloch führt durch das München von 1938

IKG-Präsidentin Charlotte Knobloch Foto: Marina Maisel

Geduldig lächelt die 92-jährige Charlotte Knobloch, in einem weißen Sessel sitzend und im roten Kostüm, von der Klassenzimmer-Wand herab - und wartet auf eine Frage. »Was ist Antisemitismus?«, tippt ein Mädchen in ihren Laptop. »Reiner Judenhass«, beginnt Charlotte Knobloch zu sprechen. Ein Junge steht mit VR-Brille und murmelt immer wieder »Krass, Alter!« vor sich hin.

Der Geschichtskurs der zwölften Klasse im städtischen St.-Anna-Gymnasium in München hat es in dieser Schulstunde mit einer virtuellen Charlotte Knobloch zu tun.

Die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern teilt als Avatar ihre Erinnerungen an die Reichspogromnacht 1938, die sie als kleines Mädchen erlebt hat, führt die Schülerinnen und Schüler durchs damalige München und erzählt, wie sie - als uneheliches Kind einer katholischen Frau in Franken getarnt - die NS-Zeit überlebt hat.

Virtual-Reality-Projekt mit dem Titel »Inside Pogromnacht«

Wer Charlotte Knobloch überhaupt ist, wissen hier im Geschichtskurs nicht alle. Die jungen Leute sind 16 oder 17 Jahre alt. »Ist sehr interessant und sehr gut gemacht«, sagt Medi zu dem Virtual-Reality-Projekt mit dem Titel »Inside Pogromnacht«, das am Mittwoch offiziell an den Start ging. Vieles wisse er schon vom Geschichtsunterricht, aber ein »Rundgang« mit VR-Brille sei schon nochmal etwas anderes.

Es sei das erste Mal, dass er direkt mit einem NS-Zeitzeugen zu tun habe - wenn auch nur in virtueller Form, sagt Olivier. Für ihn habe es sich angefühlt, als spreche da ein echter Mensch zu ihm. Die Tatsache, dass es in naher Zukunft keine NS-Zeitzeugen mehr gibt, war einer der Gründe, warum die Claims Conference (New York), die seit 1951 die Interessen von jüdischen Opfern des Nationalsozialismus vertritt, das Projekt »Inside Pogromnacht« ins Leben gerufen hat.

Der europäische Claims-Conference-Vertreter Rüdiger Mahlo sagte bei der Präsentation in München, er sehe die Begegnung mit virtuellen Zeitzeugen wie Charlotte Knobloch als eine »emotionalisierte Form«, künftige Generationen an das Thema heranzuführen. Das St.-Anna-Gymnasium sei die erste Schule weltweit, die das Projekt testen dürfe.

Antworten auf 1000 Fragen durch Charlotte Knobloch und KI

Währenddessen spricht erneut die virtuelle Charlotte Knobloch. Sie erzählt von dem Moment, in dem sie während der Pogromnacht am 9. November 1938 die alte Ohel-Jakob-Synagoge in der Münchner Innenstadt gesehen hat, die die Nationalsozialisten in Brand gesteckt hatten.

»Warum kommt denn nicht die Feuerwehr«, habe sie sich als kleines Mädchen damals gefragt. Sie habe damals auch nicht verstanden, was überhaupt Juden seien.

Sie habe bis heute ein »ungutes Gefühl«, wenn sie das Wort »Jude« höre, fühle sich immer noch ausgestoßen, erzählt sie. Überlebt habe sie die NS-Zeit nur, weil ihr Vater sie in die Obhut von Zenzi gegeben habe, der katholischen Haushälterin ihres Onkels, die auf einem Bauernhof in Mittelfranken lebte. Sie sei dort als ihr uneheliches Kind ausgegeben worden. Fortan habe sie sich Lotte Hummel nennen müssen.

Sie finden das Projekt »richtig cool«, weil es wie eine Zeitreise sei, sagen Anastasia und Pamina. Charlotte Knobloch kennen die beiden 17-jährigen Mädchen. Sie seien im vergangenen Jahr in der neuen Ohel-Jakob-Synage gewesen und hätten dort viel über Knoblochs Leben erfahren. Es sei wichtig, dass die NS-Zeit nicht in Vergessenheit gerate - vor allem nicht in der jungen Generation, in der manchmal in »respektloser Weise« über die Opfer der NS-Zeit geredet werde, sagen die zwei.

Damit die Schüler von Knoblochs Avatar auf ihre Fragen die passende Antwort erhalten, musste die echte Charlotte Knobloch mehrere Tage lang rund 1.000 Fragen auf Deutsch und auf Englisch beantworten. Die KI setzt dann aus diesem Pool die passende Antwort zusammen - und die virtuelle Charlotte Knobloch beginnt zu erzählen.

Porträt der Woche

Ein Überlebenswerk

Nicolaus Blättermann fand nach der Schoa die Kraft zum Neubeginn

von Lorenz Hartwig  09.11.2025

Gedenken

Neues Denkmal für jüdische Häftlinge in Gedenkstätte Ravensbrück

Etwa 20.000 Jüdinnen und Juden sind im ehemaligen Konzentrationslager Ravensbrück in Brandenburg inhaftiert gewesen. Die heutige Gedenkstätte hat nun ein neues Denkmal enthüllt - im Beisein von Überlebenden

von Daniel Zander  06.11.2025

Ehrung

»Wir Nichtjuden sind in der Pflicht«

Am Mittwochabend wurde Karoline Preisler mit dem Paul-Spiegel-Preis des Zentralrats der Juden in Deutschland ausgezeichnet. Wir dokumentieren ihre Dankesrede

von Karoline Preisler  08.11.2025 Aktualisiert

Reaktionen

Zohran Mamdanis Sieg spaltet die jüdische Gemeinschaft

Während ein Drittel der New Yorker Juden den neuen Bürgermeister gewählt hat, haben andere Angst, dass dessen Antizionismus ihre Sicherheit gefährdet

 06.11.2025

Hamburg

Viel mehr als Klezmer

In der Hansestadt haben die zweiten Jüdischen Kulturtage begonnen. Bis Mitte Dezember erwartet die Besucher ein breit gefächertes Programm – inklusive einer jiddisch-hebräischen Oper

von Heike Linde-Lembke  06.11.2025

Düsseldorf

»Eine Stimme, wo andere schwiegen«

Die Gemeinde zeichnet Wolfgang Rolshoven mit der Josef-Neuberger-Medaille aus

von Stefan Laurin  06.11.2025

Berlin

Andacht für Margot Friedländer: »Du lebst weiter«

Sie war Holocaustüberlebende, Berliner Ehrenbürgerin und eine eindrucksvolle Persönlichkeit. Gestern wäre Margot Friedländer 104 Jahre alt geworden. An ihrem Grab erinnern Freunde und Bekannte an sie

von Andreas Heimann  06.11.2025

Laudatio

»Wie hält man so etwas aus?«

Bundestagspräsidentin Julia Klöckner hielt die Laudatio auf Karoline Preisler anlässlich der Verleihung des Paul-Spiegel-Preises in Berlin. Eine Dokumentation

von Julia Klöckner  05.11.2025

Potsdam

Abraham-Geiger-Kolleg ordiniert zwei Rabbinerinnen

In Deutschlands größter Synagoge Rykestraße in Berlin-Prenzlauer Berg werden an diesem Donnerstag zwei Rabbinerinnen ordiniert. Zu der Feier wird auch Polit-Prominenz erwartet

 05.11.2025