Bayreuth

Verschobene Grenzen

Immer häufiger nehmen Juden Antisemitismus im Alltag wahr. Doch inwiefern tragen das Internet und unsere Sprache zu dieser Entwicklung bei? Über diese Fragen diskutierten Experten auf dem Regionalforum »Antisemitismus in Deutschland« in Bayreuth, ausgerichtet vom Verein Deutsche Gesellschaft.

Judenfeindschaft sei in der alltäglichen Kommunikation angekommen, sagt Abraham Lehrer, Vizepräsident des Zentralrats der Juden, und berichtet von einer besorgniserregenden Entwicklung in Deutschland. Tagtäglich erreichten ihn E-Mails wie: »Ihre strukturlose Kritik an der AfD wird langsam lästig: Sie ist ohne Gehirn. Ich fange langsam an, die Juden zu hassen.«

Juden verstecken ihre Identität inzwischen auch schon vor Freunden und Kollegen.

öffentlichkeit Lehrer hat es solche Zuschriften schon immer gegeben. Allerdings hätten sie in den letzten Jahren deutlich zugenommen, da es durch soziale Medien und E-Mails einfacher geworden sei, anonym mit fremden Menschen zu kommunizieren. Diese Ressentiments verunsicherten auch die jüdische Gemeinde. Lehrer berichtet von Juden, die ihr Judentum nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch im Kollegen- oder Freundeskreis verstecken.

Die wahrgenommene Unsicherheit werde durch eine Studie bestätigt, die im vergangenen Jahr von der europäischen Grundrechteagentur FRA veröffentlicht wurde. Die Studie zeige, dass neun von zehn befragten Juden finden, dass der Antisemitismus in ihrem Land zugenommen habe. Lehrers Diagnose ist klar: Je weiter die Schoa zurückliege, desto enthemmter äußere man sich wieder in der Öffentlichkeit.

duden Der alltägliche Sprachgebrauch und soziale Medien spielen für diese Entwicklung eine wichtige Rolle. Kathrin Kunkel-Razum, Leiterin der Dudenredaktion, analysiert den deutschen Sprachgebrauch mit einer elektronischen Textsammlung, die bis zu fünf Milliarden Wortformen beinhaltet und auf Zeitungen beruht. Sie berichtete, man erkenne deutlich, dass das Wort »Antisemitismus« in den letzten drei bis fünf Jahren häufiger in der Presse erschienen sei. Beleidigungen wie »Judensau« hingegen nicht. Das liege auch daran, dass Texte im Internet nicht in die Textsammlung mit aufgenommen werden.

Florian Eisheuer, Leiter des Arbeitsbereiches Antisemitismus der Amadeu-Antonio-Stiftung, wies darauf hin, dass Hate Speech hauptsächlich im Internet verwendet werde und es nun an der Zeit sei, das Internet als gesellschaftliche Sphäre zu behandeln. Dabei sollten soziale Medien wie Facebook und Twitter, wie Zeitungsredaktionen auch, zur Verantwortung gezogen werden.

bildungsbürger Doch Antisemitismus ist nicht nur ein Problem unter jungen Menschen oder im Internet. Er erhalte ebenfalls Zuschriften von Bildungsbürgern, die ihren Absender kenntlich machen und klar zu ihren antisemitischen Überzeugungen stehen, sagt Abraham Lehrer.

Warum haben sich aber die Grenzen von Unsagbarem und Sagbarem verschoben? Eva-Maria Ziege, Lehrstuhlinhaberin für Politische Soziologie an der Universität Bayreuth, glaubt, dass das »Warum« sich nur schwer von der Wissenschaft beantworten lasse. Vielmehr müsse diese die Entwicklung des Antisemitismus in den letzten Jahren, also das »Wie«, untersuchen. Dazu benötige man mehr Geld für Forschung, aber auch eine bessere Lehrerausbildung zum Themenkomplex Antisemitismus.

Was kann auf regionaler und lokaler Ebene gegen Antisemitismus getan werden? Ein Beispiel ist die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS), die im April eine Zweigstelle in Bayern eröffnet hat. Opfer und Zeugen antisemitischer Vorfälle können sich an die Meldestelle wenden und erhalten Beratungsangebote.

Rias Die RIAS dient auch als wichtige Informationsquelle für die Präventionsarbeit des bayerischen Staatsministeriums für Familie, Arbeit und Soziales. Neben der Präventionsarbeit mit Kindern und Jugendlichen seien auch Erwachsene eine wichtige Zielgruppe, die man nicht aus den Augen verlieren dürfe, betont der Leiter der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg, Jörg Skriebeleit. Allerdings sei es schwieriger, Erwachsene zu erreichen als Schulklassen.

Die Forschung muss das »Wie« der Ausbreitung von Antisemitismus untersuchen.

Die Podiumsdiskussionen zeigten, dass Antisemitismus immer häufiger an die Oberfläche gelangt, sowohl im Alltag als auch im Internet. Dennoch bestehe Hoffnung: Die Experten waren sich darin einig, dass es in Deutschland auch breite Bündnisse gegen Antisemitismus gibt.

Veranstaltungen wie das Regionalforum in Bayreuth zeigten außerdem, dass an dieser besorgniserregenden Entwicklung ein großes Interesse der Öffentlichkeit besteht. Doch von einer Umkehr des Trends von zunehmendem Antisemitismus kann man trotz aller positiven Anzeichen wohl noch nicht sprechen.

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