Die kleine Broschüre fällt auf. Die Farbe ist ein frisches Hellblau, das Papier ist fester als gewöhnliches, damit es oft in die Hand genommen werden kann. Somit hat das schmale Heft gute Chancen, lange und oft genutzt zu werden. »Mit dem Alter nimmt die Leistung unseres Gedächtnisses häufig ab«, sagt Alina Fejgin, Leiterin des Sozialreferats der Jüdischen Gemeinde Hannover und des Sozialreferats des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden von Niedersachsen.
Den Prozess könne man zwar nicht stoppen, aber er lasse sich verlangsamen. »In dieser Broschüre haben wir einige Übungen zusammengestellt, mit denen man sein Gedächtnis trainieren kann.«
Das Besondere: Sie ist zweisprachig, in der einen Hälfte ist alles auf Deutsch, in der anderen alle Aufgaben und Texte auf Russisch. Die erste Auflage von 500 Exemplaren sei schon fast vergriffen, sagt Alina Fejgin.
ISRAEL Sie hat festgestellt, dass es in Hannover ein großes Angebot für Demenzkranke gibt – aber nicht in russischer Sprache. Deshalb habe sie diese Broschüre angeregt und sich auf die Suche nach passenden Übungen begeben, die neben der Zweisprachigkeit auch einen jüdischen Content haben. Zahlreiche farbige Abbildungen laden Jung und Alt ein, sie zu lösen. Dank der großen Schrift sind die Texte gut lesbar, auch wenn die Augen nachlassen.
Übung drei ist beispielsweise ein Buchstabenrätsel. In den Namen der zehn israelischen Städte fehlen jeweils zwei Buchstaben, die man finden soll. In einer weiteren Übung darf der Teilnehmer bekannte Symbole aufschreiben, die mit dem Judentum verbunden sind. Oder das Quiz lösen, indem man Fragen wie »Welche Farben enthält die israelische Flagge?«, »In welchem Meer badet man nicht?«, »Wie viele Bundesländer hat Deutschland?« beantwortet. Dazu kommen Übungen, bei denen man Unterschiede auf den Bildern finden soll oder klären muss, welcher Schatten der von dem abgebildeten Rabbiner sein könnte.
Seit Jahren fiel Alina Fejgin bei ihrer Arbeit als Leiterin des Sozialreferats in der Jüdischen Gemeinde Hannover und für den Landesverband auf, dass Demenz immer mehr zu einem Problem wird. Aber es geht nicht nur um Demenz. Vor allem Corona hatte große Auswirkungen auf die mentale Gesundheit von Senioren. Insbesondere während der Lockdowns blieben viele ältere Gemeindemitglieder zu Hause und wurden seitdem immer passiver. Sie besuchten weniger oft die Deutschkurse und wurden zunehmend isolierter. »So ging einiges verloren.« Viele haben eine Corona-Infektion überstanden.
Symbole suchen, fehlende Buchstaben finden – die Aufgaben bringen Spaß.
Demenz sei mittlerweile eine Volkskrankheit geworden, sagt die Sozialpädagogin. Sie erlebe es oft, dass Betroffene oder deren Angehörige in ihre Beratungsstelle kommen. »Die Betroffenen spüren, dass sich etwas verändert.« Und natürlich haben sie auch Angst vor der Diagnose. »Aber für die Diagnose ist ein Arzt zuständig«, sagt Fejgin. Sie hingegen kann zuhören und beraten. Auch mit Demenz könne jeder ein erfülltes Leben führen. »Es ist kein Todesurteil.« Man müsse sich aber bewusst machen, ob und wie man sein Leben ändern könne. »Eine Vogel-Strauß-Politik hilft da nicht. Lieber der Realität ins Auge sehen.«
Demenz betrifft heutzutage diverse Altersgruppen. »In der Gemeinde haben wir eher mit Altersdemenz zu tun. Unser Gesprächskreis für Demenzkranke und ihre pflegenden Familienangehörigen, den wir im Rahmen der Zusammenarbeit mit der Zentralwohlfahrtsstelle (ZWST) und der Claims Conference schon vor Jahren eröffnet haben, leistet eine große Hilfe und ist inzwischen regional bekannt«, betont die Sozialarbeiterin.
Einer der Schwerpunkte der Beratungen ist die Verhaltensauffälligkeit der Betroffenen. Denn wenn jemand merkt, dass er seine Fähigkeiten verliert, macht es ihm Angst, sodass er mitunter auch gereizt sein kann. Hinzu komme, dass auch Familienmitglieder ungehalten werden können, wenn sie wahrnehmen, dass Vater oder Mutter vieles vergessen. »Da muss man Verständnis aufbringen.«
GESELLSCHAFT Die Jüdische Gemeinde Hannover bietet verschiedene Gruppenaktivitäten für ältere Generationen an. »Gerade für diejenigen, die schlecht Deutsch sprechen, sind wir eine kleine Insel«, sagt sie. Für Fejgin sei es mit am wichtigsten, dass sich ältere und alleinstehende Personen in Gesellschaft begeben. Deshalb bietet die Gemeinde Computer- und Nordic-Walking-Kurse an. Gerade für Alleinstehende sei es wichtig, die Wohnung zu verlassen. Ebenso empfiehlt sie Alleinstehenden, mit ihren Freunden und weiter entfernt lebenden Angehörigen zu skypen.
Vor ein paar Monaten fragte sich die Sozialpädagogin, wie man helfen könne. Nicht alle schaffen es noch in die Gemeinde, also muss die Hilfe zu ihnen kommen – in Form der Broschüre. Sie fing an, nach passenden Übungen zu suchen, und wurde fündig. Die Übungen mit jüdischem Content sind aber in beiden Sprachen »eine Mangelware«. Somit ließ sie solche Aufgaben anfertigen.
»Überzeugen Sie sich selbst von den Erfolgen eines regelmäßigen Gedächtnistrainings. Nur fünf Minuten pro Tag – und man ist überrascht«, sagt sie. Mittlerweile haben viele jüdische Gemeinden bei ihr nachgefragt und eine Broschüre bestellt, die auch vom Zentralrat der Juden mit unterstützt wurde. Die nächste Auflage soll demnächst gedruckt werden.