Potsdam

Twens mit Tatkraft

Die Macher: Junge Potsdamer setzen sich für die jüdische Gemeinschaft ein. Foto: Mike Minehan

Im steingrauen Dreistöcker in der Werner-Seelenbinder-Straße, bestens bekannt als Potsdams »Alte Feuerwache«, herrscht ausgelassene Stimmung. Erst vor Kurzem, an Tu Bischwat, strahlten hier Dutzende Kinderaugen, als es hieß, sich in kleine und große Bäume zu verwandeln und spannenden Geschichten aus Israel zu lauschen. An diesem Nachmittag sind Malkünste, Rätselraten und Geschicklichkeitsspiele die Favoriten.

Im Hintergrund werden Gitarren gestimmt, und bisweilen versteht man das eigene Wort nicht mehr. Willkommen bei »Lifroach«, dem ersten jüdischen Jugendzentrum in Brandenburgs Hauptstadt. »Lifroach« steht im Hebräischen für »Aufblühen«, und genau das ist Ziel und Programm: Das erst anderthalb Jahre alte Projekt unterm Dach der Jüdischen Gemeinde Potsdam soll wachsen in alle Richtungen.

An kreativen Helfern fehlt es dazu jedenfalls nicht. Den Gründerkreis vom Herbst 2011 stellten junge Leute um die 20, ausgiebig mit Abitur oder Studium beschäftigt – und dennoch höchst motiviert, mit Teenagern und Kindern in die bunte Welt des Judentums einzutauchen. Selbst Mädchen und Jungen im Vorschulalter werden in die Arbeit einbezogen.

Jana Gurewitsch (20), heute Studentin der Betriebswirtschaft in Berlin, kommt immer noch gern nach Potsdam und beschwört den ungewöhnlichen Teamgeist: »Jeder hier will mehr vom Judentum erfahren. Jeder investiert Zeit und Energie, um davon auch gleich etwas weiterzugeben. Ein unglaubliches Potenzial.« Der Pädagogikstudent an der Universität Potsdam, Boris Silbermann (21), ist gleich doppelt motiviert: »Es ist schön zu sehen, wie Mädchen und Jungen sich für jüdische Geschichten und Feste begeistern. Aber das passt alles auch hervorragend zu meinem eigenen Studium, und kreative Freizeitgestaltung ist da ein wichtiges Bewährungsfeld.«

Spontanes Engagement »Die jüdische Lebenswelt zu entdecken, scheint mir ein Abenteuer für sich«, sinniert Ruslan Khomenko, ebenfalls 20 Jahre alt. Er ist erst vor zweieinhalb Jahren mit seiner Familie aus dem kasachischen Karaganda an die Havel gekommen. Nach dem Abschluss diverser Vorbereitungskurse will er hier Medizin studieren. Als er vom Projekt »Lifroach« hörte, schloss er sich sofort an.

Inzwischen mischt »Lifroach«, dessen Initiatoren durchweg Zuwandererfamilien aus den Ländern der ehemaligen GUS entstammen, im Potsdamer Gemeindeleben gehörig mit. Doch hinter dem, was an Veranstaltungen und Angeboten fast wie von selbst »gezaubert« daherkommt, steckt ein hartes Stück Arbeit.

Roza Alkhasova (20) und Günel Musaeva (22), die heute aus der Programmgestaltung nicht mehr wegzudenken sind, erinnern sich an sehr hilfreiche Vorbereitungsseminare für Madrichim. Eigens für Potsdam hatte diese das Jugendreferat der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST) organisiert. Anna Kyryan (19) und Aleksander Tochyltsev (21) konzentrierten sich bald nach der »Lifroach«-Gründung auf die Entwicklung von Sportangeboten für unterschiedliche Altersgruppen. Jeder entdeckte so eigene Rollen und Stärken im Team. Die Wahl eines eigenen Leiters – in vielen Jugendzentren als »Rosch« präsent – schenkte man sich hingegen.

Eine besondere Resonanz erreichen die jungen Leute stets mit Begleitprogrammen zu den jüdischen Feiertagen. Dabei ist die unangefochtene Nummer eins das Kinderpurim geblieben – mit Kostümen, die manchem rheinischen Karneval locker die Schau stehlen würden. »Was die Kinder an ›Lifroach‹ so lieben, ist wohl die spielerische, unaufdringliche Vermittlung von Lebensfreude und Tradition«, schwärmt Anna Razu vom Potsdamer Gemeindevorstand.

Unterstützung Valentina Ivanidze, als Vorstandsmitglied für Kinder- und Jugendbetreuung zuständig, ergänzt: »Seitdem die Madrichim bei einigen Familientagen dabei waren, haben sie sich einfach in die Herzen der Eltern und Kinder gespielt. Die Gemeinde versucht sie nun zu unterstützen, wo immer es geht.« Inzwischen lädt das Jugendzentrum jeweils zwei Sonntage pro Monat zu kreativen Nachmittagen rund um das Judentum ein – mit Stegreifspielen, Gesang, spannenden Geschichten und demnächst auch mit Kindertheater und Kindertanz.

»Willkommen sind übrigens auch Mädchen und Jungen, deren Familien nicht Gemeindemitglied sind«, betont Alexej Scheremetjew (19), der kürzlich ein Chemiestudium an der Universität Potsdam aufgenommen hat. »Unsere Türen sind offen für alle.« Gemeindevorsitzender Michail Tkach freut sich seinerseits, dass die jungen Leute nicht nur in der »Alten Feuerwache« aktiv sind, sondern auch Brücken ins Umland zu schlagen versuchen. So gibt es seit Längerem gute Kontakte zum Sally-Bein-Gymnasium in Beelitz, dessen Gebäude bis zum Zweiten Weltkrieg die »Israelitische Erziehungsanstalt für geistig und körperlich behinderte Kinder« beherbergte. Im Juni 1942 wurden die Mädchen und Jungen dieser Schule, wie auch ihr Direktor Sally Bein, nach Auschwitz deportiert und dort ermordet.

Aufarbeitung »Unsere Leute waren schon häufiger in Beelitz und haben dort die Arbeit von ›Lifroach‹ vorgestellt, gemeinsam mit den Gymnasiasten über die Historie des Hauses und über Erinnerungsformen diskutiert. Das ist Aufarbeitung von Geschichte, ohne die Gegenwart und die Zukunft zu vergessen«, sagt Tkach anerkennend.

Wie ihre Altersgenossen packt die Madrichim mitunter auch mächtig das Reisefieber – und dann wollen sie weit über Berlin-Brandenburgs Grenzen hinaus. Aber selbst hier scheinen sich eigene Prämissen entwickelt zu haben. Viele zieht es schon länger zu den jährlichen ZWST-Jugendkongressen, wo die Potsdamer laut Ruslan »ständig mehr werden«.

Auch zur jährlichen »Jewrovision« wird das Jugendzentrum eingeladen. Vorerst bleibt den Potsdamern dort jedoch »nur« der Zuschauerstatus. Aber auch das könnte sich ändern. Geplant ist zudem bald eine Reise ins belgische Antwerpen. Alexej erwartet dabei schon jetzt mehr als nur touristische Gaudi: »Die jüdische Gemeinschaft in Antwerpen gilt als sehr stark und traditionsreich. Ich denke, wir werden dort viel für unsere eigene Zukunft lernen.«

Sachsen

Landesbeauftragter: Jüdisches Leben auch in Sachsen gefährdet

Die Hemmschwelle, in eine Synagoge zu gehen, sei größer geworden, sagt Thomas Feist (CDU)

 25.04.2024

Pessach

Vertrauen bewahren

Das Fest des Auszugs aus Ägypten erinnert uns daran, ein Leben in Freiheit zu führen. Dies muss auch politisch unverhandelbare Realität sein

von Charlotte Knobloch  22.04.2024

Pessach

Das ist Juden in Deutschland dieses Jahr am wichtigsten

Wir haben uns in den Gemeinden umgehört

von Christine Schmitt, Katrin Richter  22.04.2024

Bayern

Gedenkveranstaltung zur Befreiung des KZ Flossenbürg vor 79 Jahren

Vier Schoa-Überlebende nahmen teil – zum ersten Mal war auch der Steinbruch für die Öffentlichkeit begehbar

 21.04.2024

DIG

Interesse an Israel

Lasse Schauder über gesellschaftliches Engagement, neue Mitglieder und die documenta 15

von Ralf Balke  21.04.2024

Friedrichshain-Kreuzberg

Antisemitische Slogans in israelischem Restaurant

In einen Tisch im »DoDa«-Deli wurde »Fuck Israel« und »Free Gaza« eingeritzt

 19.04.2024

Pessach

Auf die Freiheit!

Wir werden uns nicht verkriechen. Wir wollen uns nicht verstecken. Wir sind stolze Juden. Ein Leitartikel zu Pessach von Zentralratspräsident Josef Schuster

von Josef Schuster  19.04.2024

Sportcamp

Tage ohne Sorge

Die Jüdische Gemeinde zu Berlin und Makkabi luden traumatisierte Kinder aus Israel ein

von Christine Schmitt  18.04.2024

Thüringen

»Wie ein Fadenkreuz im Rücken«

Die Beratungsstelle Ezra stellt ihre bedrückende Jahresstatistik zu rechter Gewalt vor

von Pascal Beck  18.04.2024