München

Tiefer Schmerz und größte Freude

Am ersten Schultag am Gymnasium bekamen wir ein Bild von einem Segelschiff geschenkt. Ich sitze im Ausguck und blicke durch ein Fernrohr. Ich bin gespannt auf die Reise!» Acht Jahre sind vergangen, seitdem die damalige Fünftklässlerin in ihrem Aufsatz vom ersten Schultag am Jüdischen Gymnasium in München berichtete. Aufgeregt und stolz, zu den Pionieren gehören zu dürfen, aber auch mit Respekt vor dem Abenteuer, das vor ihr lag.

Dieses Jahr hat sie Abitur gemacht, ihre Reise auf dem Schulschiff des Helene Habermann Gymnasiums ist am Ziel angelangt. Endlich war es so weit: Der erste Jahrgang hat das bayerische Zentralabitur erfolgreich absolviert, und man merkte den jungen Damen und Herren neben dem Stolz und der Freude auch die Erleichterung an, die Erwartungen, die in sie all die Jahre des Aufbaus gesetzt wurden, erfüllt zu haben und den Staffelstab nun weitergeben zu dürfen.

Die Reise war ein Abenteuer

Denn ihre Reise war auch für sie ein Abenteuer: Alles begann im familiären Setting einer kleinen Klasse am Jakobsplatz, in dem es mangels älterer Vorbilder ganz natürlich ihre Aufgabe war, alle Erfahrungen als Erste zu machen: Schülersprecher sein, Purimfeste organisieren, Orte für Klassenfahrten erkunden, geeignete Wege finden, um Gedenk- und Feiertage auf gymnasialem Niveau zu begehen, Praktikumsplätze finden, Punkte fürs Abi­tur sammeln, Prüfungen schreiben, eine Abschlussfahrt nach Israel planen oder einen Abi-Streich durchführen.

Alles begann im familiären Setting einer kleinen Klasse am Jakobsplatz.

Sie bahnten den Weg für die kommenden Generationen und legten zugleich das Fundament dafür, was den Geist dieser besonderen Schule bestimmt: die gelebte Schulfamilie. Der Zusammenhalt an Bord war es, der uns über die Jahre auch durch schwierige Gewässer getragen hat. Denn der erste Jahrgang hat weit mehr an hohen Wellen durchsegelt, als es eigentlich zumutbar erscheint: Die Corona-Pandemie traf sie mit voller Wucht in der Mittelstufe. Neben Distanzunterricht und all den Wirren um Kohortentrennung, Masken, Testen und Mindestabstände wechselte dieser Jahrgang zwischenzeitlich zum Unterricht ins Stadtmuseum.

Der Umzug in ein neues Gebäude in eine Schule mit neuem Namen fiel in die Sommerferien, zu deren Beginn sie nicht wussten, wo sie im Herbst zur Schule gehen würden. Der Überfall Russlands auf die Ukraine bescherte ihnen neben der persönlichen Betroffenheit von einem Tag auf den anderen eine neue Schulklasse, und schließlich fiel der 7. Oktober in ihr letztes Schuljahr.

Tiefe Wunden

Ein Rückblick auf das vergangene Schuljahr am Helene Habermann Gymnasium kann diesen Einschnitt nicht aussparen, und die unmittelbare Konsequenz, dass die lange geplante Abiturfahrt nach Israel, die zwei Wochen nach dem Terroranschlag hätte stattfinden sollen, abgesagt werden musste, war rückblickend betrachtet die am wenigsten schmerzhafte. Wie tief die Wunden sind, die in der Schulfamilie gerissen wurden, zeigte sich nach und nach, und verheilen werden diese Wunden wohl lange nicht.

Die Namen aller Geiseln ziehen sich durch das Treppenhaus des Schulgebäudes – ein schier endloses Band, nur hier und da mit einem Vermerk «befreit» versehen und manche gekennzeichnet als getötet. Sie sind nicht vergessen, sie mahnen beim täglichen Treppauf-Treppab, dass sich hinter der abstrakten Zahl Menschen mit ihren persönlichen Schicksalen und Familien verbergen.

«Es sind so viele», kommentiert ein Junge auf dem Video, das die Schülerschaft zu diesem Erinnerungsband gedreht hat, «und manche sind so alt wie ich oder wie meine kleine Schwester.» Durch ihre Präsenz im Treppenhaus sind sie Teil der Schulfamilie geworden – und sie bleiben dort, bis die letzte Geisel befreit ist.

Die Namen aller Geiseln ziehen sich durch das Treppenhaus des Schulgebäudes.

Das Erschrecken über das brutale Massaker und seine Folgen war das eine, das die Schulgemeinschaft bis ins Mark traf – nachhaltiger aber ist die wachsende Verunsicherung angesichts antisemitischer und israelfeindlicher Hetze auf den Straßen und im Netz. Artikuliert haben dies Schüler im Juli im Gespräch mit dem Beauftragten der Bayerischen Staatsregierung für jüdisches Leben und gegen Antisemitismus, Ludwig Spaenle. Verschreckt, schutz- und machtlos stehen sie der Flut an Postings und Kommentaren auf Social Media gegenüber und beginnen zu verstummen, weil sachliche Argumentation und das Dagegenhalten zunehmend zwecklos erscheinen.

Hass und Hetze

«Ich habe schon alle möglichen Schlüsselwörter in meinen Filter gesetzt, aber trotzdem werden mir von TikTok immer wieder Posts gezeigt, die voller Hass und Hetze sind», äußert eine Schülerin im Gespräch mit Spaenle – immerhin, hier im geschützten Rahmen finden sie ihre Stimme wieder, werden gehört. Auch der Besuch von Kultusministerin Anna Stolz im Dezember bot den Schülern die Möglichkeit, ihre Eindrücke zu schildern.

Was ihnen Sicherheit gibt? «Die Schule», antwortet eine Schülerin auf die Frage der Ministerin. Am Helene Habermann Gymnasium teilt man in diesem Schuljahr beides: den tiefen Schmerz angesichts des «Schwarzen Schabbats» ebenso wie die größte Freude über den Erfolg des ersten Abiturjahrgangs.

Die Autorin ist Schulleiterin des Helene Habermann Gymnasiums.

Pädagogik

Karin Prien gegen private Handynutzung an Grundschulen

Die Bundesbildungsministerin betont: »Wir müssen uns damit sehr schnell und sehr intensiv beschäftigten.«

 17.05.2025

Tel Aviv/Ravensburg

Ricarda Louk kämpft für das Andenken an ihre Tochter Shani

Am 7. Oktober 2023 wollte Ricarda Louks Tochter mit anderen jungen Menschen tanzen und feiern – dann kam das Massaker der Hamas. Vor einem Jahr wurde Shanis Leiche gefunden. So geht es ihrer Familie heute

 16.05.2025

Berlin

»So monströs die Verbrechen der Nazis, so gigantisch dein Wille, zu leben«

Leeor Engländer verabschiedet sich in einer berührenden Trauerrede von Margot Friedländer. Wir dokumentieren sie im Wortlaut

von Leeor Engländer  15.05.2025

Trauerfeier

Die unbeugsame Berlinerin

Nach dem Tod von Margot Friedländer trauert ganz Berlin um eine besondere Frau, die als Holocaust-Überlebende unermüdlich für Menschlichkeit eintrat. Bei ihrer Beisetzung nahmen hochrangige Gäste nun Abschied

von Sigrid Hoff  15.05.2025

Abschied

Eine letzte Verneigung

Die am 9. Mai verstorbene Holocaust-Überlebende Margot Friedländer ist am Donnerstag in Berlin beigesetzt worden. An der Trauerfeier nahmen neben Wegbegleitern auch die gesamte Staatsspitze teil

von Markus Geiler  15.05.2025

Berlin

Große Anteilnahme bei Beisetzung von Margot Friedländer

Knapp eine Woche nach ihrem Tod wird die Holocaust-Überlebende beigesetzt. Zu der Trauerfeier kommen viele Persönlichkeiten aus Politik und Gesellschaft

 15.05.2025 Aktualisiert

Jahrestag

Erben der Erinnerung

Auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Dachau gedachten Schoa-Überlebende sowie Vertreter aus Politik und Gesellschaft der Befreiung vor 80 Jahren

von Vivian Rosen  15.05.2025

Gedenkstunde

»Der Sieg ist auch der Sieg der Gefallenen«

Die Israelitische Kultusgemeinde München und Oberbayern ehrte die jüdischen Soldaten mit einer Kranzniederlegung

von Vivian Rosen  15.05.2025

Essen

Blumen aus Lotan

Ein Team des Kibbuz im Negev ist zu Gast in der Alten Synagoge, um Jugendlichen Ökologie, Achtsamkeit und Nachhaltigkeit näherzubringen

von Stefan Laurin  15.05.2025