Porträt der Woche

»Tanzen ist für mich Freiheit«

Kirill Berezovski lebt in Mannheim, ist beruflich viel auf Reisen und genießt kurze Auszeiten am liebsten zu Hause

 14.04.2019 10:12 Uhr

»Ich wollte mir ein Leben aufbauen an einem Ort, den ich noch nicht kenne«: Kirill Berezovski (28) lebt in Mannheim. Foto: Rita Eggstein

Kirill Berezovski lebt in Mannheim, ist beruflich viel auf Reisen und genießt kurze Auszeiten am liebsten zu Hause

 14.04.2019 10:12 Uhr

Ich bin freiberuflicher Tänzer und Choreograf, mein Schwerpunkt ist Zeitgenössisches. Wenn ich mich auf der Bühne bewege, denke ich nicht darüber nach, wie die anderen das finden. Dann gebe ich einfach nur meiner inneren Stimme eine Form. Auf der Bühne drücke ich Dinge aus, die man nur mit dem Körper ausdrücken kann, nicht mit Worten. Wo sonst kann man das tun? Tanzen ist für mich Freiheit.

Natürlich bin ich vor jedem Auftritt nervös, ganz egal, wie lang ich schon tanze. Ich würde sagen: Ohne Lampenfieber wäre etwas falsch. Wenn ich nicht Tänzer geworden wäre, dann wäre ich wahrscheinlich Musiker. Der Kunst, vor allem der Musik, war ich durch meine Familie von Anfang an verbunden. Kunst war für uns alle immer ein Teil unseres Lebens.

name Das Ausländischste an mir ist mein Name. Wenn die Leute ihn hören, fragen sie mich oft, woher ich komme. Ich wurde 1991 in Odessa geboren. Als ich Ende 1991 mit meinen Eltern und Großeltern nach Deutschland kam, war ich noch ein Baby. Zuerst waren wir in Esslingen, danach in Weil am Rhein, dann kamen wir nach Freiburg. Dort bin ich aufgewachsen. Wir waren jüdische Kontingentflüchtlinge, meine Familie hatte sich zur Ausreise entschlossen, weil die wirtschaftliche Lage in Odessa sehr schlecht war.

Als Kind besuchte ich regelmäßig zu den großen Festen die Synagoge, später weniger.

In Freiburg habe ich bei meiner Mutter gelebt. Meine Eltern haben sich so früh getrennt, dass ich mich nicht mehr daran erinnern kann. Mein Vater lebte in Freiburg, bis ich 13 war. Dann zog er mit seiner zweiten Frau nach Stuttgart, inzwischen leben die beiden in Südafrika.

Meine Mutter ist nun in Hessen, auch sie hat wieder geheiratet. Nur meine Großeltern sind noch in Freiburg. Wenn ich sie besuche, treffe ich alte Freunde von früher. Aber viele von ihnen sind mittlerweile auch weggezogen, genau wie ich vor sieben Jahren. Damals wollte ich weg aus meiner Komfortzone, mein eigenes Ding machen. Ich wollte mir ein Leben aufbauen an einem Ort, den ich noch nicht kenne. Ich bin nach Mannheim gegangen. Dort sind jetzt meine wichtigsten Freunde und meine Freundin.

ZUHAUSE Ich mag Mannheim – die Menschen dort, die Künstlerszene, das Flair, das so anders ist als im idyllischen Freiburg. Und Mannheim liegt sehr zentral. Von dort aus komme ich schnell überall hin, mit dem Zug oder zum Flughafen in Frankfurt. Das ist wichtig für mich.

In den USA sind die Lebensbedingungen für Künstler sehr viel härter, es gibt viel weniger Unterstützung als in Deutschland.

Meistens trete ich in Süddeutschland auf, außer in Mannheim auch in Stuttgart, Darmstadt, Wiesbaden, Ingolstadt oder Nürnberg. Das hängt auch damit zusammen, dass die Förderung für Künstlerprojekte in Baden-Württemberg und Bayern am besten ist, deshalb gibt es dort mehr Möglichkeiten als anderswo. Aber ich bin auch manchmal in Norddeutschland oder international unterwegs.

In den vergangenen zwei Jahren war ich in den USA, in Kalifornien. Diese Verbindungen bekam ich durch meine Freundin, die Amerikanerin ist. Sie ist auch Tänzerin. In den USA sind die Lebensbedingungen für Künstler sehr viel härter, es gibt viel weniger Unterstützung als in Deutschland. Deshalb ist klar, dass wir hier leben. Wir sind beide Freiberufler und viel unterwegs. Meist reise ich drei Viertel eines Jahres herum. Manchmal kommt meine Freundin mit, oder ich begleite sie zu ihren Auftritten. Deshalb haben wir es bisher gut hinbekommen, dass wir trotz des vielen Unterwegsseins viel zusammensein können.

musik Es ist sehr interessant, so viele Orte, Menschen und Möglichkeiten kennenzulernen. Manchmal brauche ich aber auch Auszeiten. Unsere Wohnung in Mannheim ist mir deshalb sehr wichtig. Einige meiner Kollegen haben keinen festen Wohnsitz, weil sie fast immer unterwegs sind. Das wäre nichts für mich. Selbst wenn ich nur zwei Tage in der Wohnung bin und danach wieder weiter muss, kann ich mich an diesen zwei Tagen dort aufs Sofa setzen und entspannen. Es fühlt sich gut an, nach Hause zu kommen.

Das Tanzen habe ich entdeckt, als ich 15 war. Damals habe ich bei einem Schulfreund übernachtet, und er hat mich mitgenommen zu seinem Tanzkurs. Das waren Standardtänze, und ich dachte: Wow, wie schön und elegant das aussieht. Als Kind war ich einmal ein halbes Jahr lang im Ballett, da war ich der einzige Junge. Das fand ich uncool. Deshalb habe ich mich damals dagegen entschieden, weiterzumachen.

Musik hat bei uns zu Hause immer dazugehört.

Musik hat bei uns zu Hause immer dazugehört. Mein Urgroßvater war Musiker, bei meinen Großeltern gab es eine Menge Schallplatten mit Opern, meine Mutter hat viel Klavier gespielt, und ich habe auch mit fünf Jahren damit begonnen. Meine Mutter hat sich in der Ukraine in einer Musikschule und auch als Schauspielerin ausbilden lassen, doch als sie nach Deutschland kam, musste sie erst einmal länger als Krankenpflegerin arbeiten. Inzwischen ist sie Klavierlehrerin und bietet unter anderem auch musikalische Früherziehung an.

casting Mit mir und dem Tanzen ging alles ganz schnell: Nachdem mich mein Freund mit zur Tanzschule genommen hatte, bin ich in einen Anfängerkurs eingestiegen. Das hat so viel Spaß gemacht, dass ich bald jeden Tag an der Tanzschule war. Nach ungefähr einem Jahr habe ich mit Turniertanz begonnen und bin schnell höher gestiegen. Später habe ich selbst unterrichtet. Meist bin ich nach der Schule zur Tanzschule gegangen und bis 22 Uhr dort geblieben. Durch Kollegen kam ich dann noch zum Hip-Hop. Das wurde mehr, als ich merkte, dass mir Paartanz nicht mehr genug bot.

Beim Paartanz ist man immer abhängig von festgelegten Schritten und von der Person, mit der man tanzt. Irgendwann war ich bei einem Casting für ein großes Tanztheaterprojekt, einer modernen Inszenierung von Romeo und Julia vom Theater Panoptikum in Freiburg. Ich wurde angenommen. Damals habe ich so viel getanzt, dass das Abi 2011 eher nebenher lief. In dieser Zeit wurde mir klar, dass ich mir das Tanzen auch beruflich vorstellen kann. So kam ich nach Mannheim, zur »Dance Professional«, das ist eine Schule, die in ihrer Ausbildung mehr Möglichkeiten im zeitgenössischen Tanz bietet als die meisten anderen. Ballett gehört zwar auch dazu, ist aber nicht so wichtig wie sonst fast überall.

Natürlich hatte meine Familie anfangs Bedenken, ob ich später genügend Geld verdienen würde.

Natürlich hatte meine Familie anfangs Bedenken, ob ich später genügend Geld verdienen würde. Aber ich habe früh gemerkt, dass es gut läuft. Schon im zweiten Ausbildungsjahr bekam ich Jobangebote. Ich bin im Vorteil, weil ich ein Mann bin: Dadurch habe ich viel weniger Konkurrenz und viel mehr Chancen als Frauen. Natürlich gehört auch viel Glück dazu. Und sehr viel Organisation, vor allem als selbstständiger Tänzer.

Im Grunde ist es ein 24-Stunden-Job, und das sieben Tage die Woche. In den Zeiten, in denen ich mich nicht auf eine Aufführung vorbereite und jeden Tag probe, gehe ich entweder zum Training, schreibe Choreografien, suche nach passender Musik oder bin mit meiner Büroarbeit beschäftigt: Ich schicke Bewerbungen los, plane die nächsten Monate, schreibe E-Mails. Inzwischen habe ich mir ein großes Netzwerk mit Kontakten aufgebaut.

Es ist wichtig, immer aktiv zu sein. Wenn dann noch freie Zeit bleibt, gehe ich gern ins Kino und treffe Freunde. Oft haben wir Besuch. In meinem Umfeld sind viele Tänzer und andere Künstler. Es ist ganz selbstverständlich, dass Freunde bei uns wohnen und auf der Couch im Wohnzimmer übernachten.

israel Nach der Ausbildung in Mannheim konnte ich ein halbes Jahr lang an einem Fortbildungsprogramm in Israel teilnehmen, bei der »Kibbutz Contemporary Dance Company«. Das ist ein Kibbuz im Norden Israels, der von Tänzern nach dem Holocaust gegründet wurde. Dort leben junge Tänzer aus der ganzen Welt zusammen, und von 9 Uhr morgens bis 23 Uhr abends wird getanzt. Das war eine sehr intensive Zeit für mich, die mir das ermöglicht hat, was ich jetzt mache. Die harte Arbeit schweißt zusammen. Es ist toll, nun überall enge Freunde zu haben: Wenn ich nach Australien komme, weiß ich, wo ich unterkommen kann.

Damals habe ich meine Freundin kennengelernt. Natürlich war das für mich auch eine Möglichkeit, mit dem israelischen zeitgenössischen Tanz in Kontakt zu kommen, mit seiner Energie und Physikalität. Und mit Israel. Dass ich jüdischer Herkunft bin, hat davor in meinem Leben keine große Rolle gespielt. Als Kind kam ich regelmäßig zu den großen Festen in die Synagoge, später immer weniger. Inzwischen habe ich mehr Bewusstsein für mein Judentum, aber ich bin kein praktizierender Jude.

Aufgezeichnet von Anja Bochtler

Friedrichshain-Kreuzberg

Antisemitische Slogans in israelischem Restaurant

In einen Tisch im »DoDa«-Deli wurde »Fuck Israel« und »Free Gaza« eingeritzt

 19.04.2024

Pessach

Auf die Freiheit!

Wir werden uns nicht verkriechen. Wir wollen uns nicht verstecken. Wir sind stolze Juden. Ein Leitartikel zu Pessach von Zentralratspräsident Josef Schuster

von Josef Schuster  19.04.2024

Sportcamp

Tage ohne Sorge

Die Jüdische Gemeinde zu Berlin und Makkabi luden traumatisierte Kinder aus Israel ein

von Christine Schmitt  18.04.2024

Thüringen

»Wie ein Fadenkreuz im Rücken«

Die Beratungsstelle Ezra stellt ihre bedrückende Jahresstatistik zu rechter Gewalt vor

von Pascal Beck  18.04.2024

Berlin

Pulled Ochsenbacke und Kokos-Malabi

Das kulturelle Miteinander stärken: Zu Besuch bei Deutschlands größtem koscheren Foodfestival

von Florentine Lippmann  17.04.2024

Essay

Steinchen für Steinchen

Wir müssen dem Tsunami des Hasses nach dem 7. Oktober ein Miteinander entgegensetzen

von Barbara Bišický-Ehrlich  16.04.2024

München

Die rappende Rebbetzin

Lea Kalisch gastierte mit ihrer Band »Šenster Gob« im Jüdischen Gemeindezentrum

von Nora Niemann  16.04.2024

Jewrovision

»Ein Quäntchen Glück ist nötig«

Igal Shamailov über den Sieg des Stuttgarter Jugendzentrums und Pläne für die Zukunft

von Christine Schmitt  16.04.2024

Porträt der Woche

Heimat in der Gemeinschaft

Rachel Bendavid-Korsten wuchs in Marokko auf und wurde in Berlin Religionslehrerin

von Gerhard Haase-Hindenberg  16.04.2024