8./9. Mai

Tag der Freude, Tag des Schmerzes

Der Orden mit Hammer und Sichel bedeutet Semjon Kleyman am meisten. Sein Name: »Orden des Vaterländischen Krieges«. 21 weitere Auszeichnungen schmücken Kleymans blaues Jackett, das er an diesem Nachmittag extra aus dem Schrank geholt hat.

»Vor Kriegsende waren wir kurz vor Prag und konnten 15 deutsche Soldaten gefangen nehmen«, erinnert sich der knapp 98-jährige Kriegsveteran, der seit mehr als 20 Jahren in Berlin lebt. Vom Kriegsende erfuhr der Oberfeldwebel im österreichischen Mistelbach. Wenige Tage später wurde er 19 Jahre alt. Er habe große Freude und gleichzeitig großen Schmerz empfunden. Daran habe sich bis heute nichts geändert.

Die Treffen des Veteranenklubs sind Kleyman sehr wichtig.

Mit 16 Jahren schloss er sich der Roten Armee an, um im Großen Vaterländischen Krieg gegen die Nazis zu kämpfen. Semjon Kleyman hat in der Schoa fast seine gesamte Familie verloren. »1943 fielen wir in die Hände der Deutschen, meine Mutter, zwei Schwestern, deren kleine Kinder und ich«, erzählt Kleyman. Sein Vater arbeitete früher in einer Zuckerfabrik, die Mutter war Hausfrau.

Nach der Bombardierung des Dorfes im Sommer 1941 war die ganze Familie gezwungen zu fliehen

Vor dem Krieg besuchte Semjon Kleyman die Schule, doch nach der Bombardierung des Dorfes im Sommer 1941 war die ganze Familie gezwungen zu fliehen. Zu Fuß gelangten sie nach Ljubotyn im Gebiet Charkiw. Von dort aus fuhr die Familie in Güterwaggons in die Region Stawropol. Dort arbeiteten die Eltern in einer Kolchose, ehe die Familie nach Stawropol zog. Seine drei Brüder hatten zu diesem Zeitpunkt bereits ihr Leben an der Front verloren. »Alle wurden ermordet. Ich selbst wurde wie durch ein Wunder gerettet«, sagt Kleyman.

Es waren heiße Sommertage, als die Nazis im Juli 1943 mit ihren Hunden kamen und Plakate aufhängten, auf denen zu lesen war, dass sich die Menschen »zwecks Umsiedlung« am Bahnhof einfinden sollten. Seine Mutter schickte ihn los, noch Brot für die Fahrt zu holen. Als er zurückkam, war die Wohnung leer.

»Die Deutschen hatten meine Familie bereits abgeholt. Die ukrainische Hausmeisterin hatte mich nicht verraten. ›Lauf‹, sagte sie zu mir. ›Sie suchen dich.‹ Doch wo sollte ich hin?« Vorübergehend konnte er sich bei einer russischen Familie verstecken. Aber sein Ziel war, als Soldat in der Roten Armee zu kämpfen. Er versuchte es immer wieder, aufgenommen zu werden.

Nach der Befreiung von Stawropol bemühte sich Semjon Kleyman mehrmals um die Einberufung in die Rote Armee, doch aufgrund seines jungen Alters wurde sein Wunsch erst nach dem dritten Antrag erfüllt. Im Januar 1944 wurde er Soldat und kämpfte in Moldawien, Rumänien, Bulgarien, Ungarn, Österreich und der Tschechoslowakei. »Ich hatte keine Angst, sondern war voller Energie.«

Auswanderung nach Deutschland

Nach dem Krieg blieb Semjon Kleyman bis Oktober 1950 in der Roten Armee. Später schloss er die Abendschule ab und studierte in Charkiw Zahnmedizin. An der Uni lernte er Ludmilla kennen, die er heiratete. Er wurde Zahnarzt, leitete die Abteilung für Kieferchirurgie, war leitender Arzt am stomatologischen Klinikum und Arzt im Eisenbahnerkrankenhaus in Winnyzja. 1999 wanderte Kleyman mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern nach Deutschland aus. »Ich bin dankbar, dass es uns hier so gut geht«, sagt er.

Noch heute ist Semjon Kleyman Vorsitzender des Berliner Veteranenklubs. Die Treffen sind für ihn sehr wichtig, auch wenn nur noch etwa zehn Veteranen dabei sind. Darunter zwei 102-jährige Frauen. Am 8. Mai wird er – wie schon in den vergangenen Jahren – am Denkmal für die Jüdischen Veteranen auf dem Friedhof Scholzplatz eine Ansprache halten. Der 8. Mai sei für ihn das bedeutende Datum.

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine belastet Kleyman. »Putin macht die Ukraine kaputt, er ist kein Mensch«, sagt er. Ludmilla ergänzt: »Wir hoffen auf Frieden in der Ukraine und in Israel.«

Am Tag der Befreiung sangen und tanzten alle – so glücklich waren sie. Grigoriy Ginzburh, der heute in Mönchengladbach lebt und damals noch ein Kind war, wird diesen Moment nie vergessen. »Wir konnten wieder in unsere Heimat zurück, und unser Haus stand sogar noch.«

»Meine Großeltern wollten nicht fliehen. Sie wurden erschossen.«

Grigoriy Ginzburh

Er wurde später Offizier und trägt heute sein Jackett mit den vielen Orden. 1941 war Grigoriy Ginzburh gerade in der Schule, als im Radio vermeldet wurde, dass die Deutschen Russland angreifen. »Flugzeuge bombardierten die Ukraine, zuerst die großen Städte, dann auch uns«, sagt er. Mit seiner Familie lebte er an einem Fluss im Zentrum des Bezirks Narodici im Norden der Ukraine. Sein Vater kämpfte an der Front.

»Wir wussten nicht, wohin wir rennen sollen, und kletterten schließlich hinab in den Keller.« Dank der Schwester seines Vaters war seine Familie eine der ersten, die evakuiert wurde. Da der nächste Bahnhof 25 Kilometer entfernt war, erhielten sie für den Transport Pferde. »Einige Leute wollten nicht fliehen, auch meine Oma und mein Opa nicht. Sie wurden erschossen.« Weil die Deutschen immer weiter vorrückten, wurden sie nach Mittelasien geschickt, wo sie sich mit einer usbekischen Familie zu siebt ein Zimmer teilten.

Schließlich wurden die Ginzburhs in eine Kolchose aufgenommen

»Über den Taschkenter Bahnhof fuhren polnische Truppentransporte, denen wir Wasser brachten, sie hingegen gaben uns Brot, manchmal auch Hering.« Schließlich wurden die Ginzburhs in eine Kolchose aufgenommen, später zogen sie in den Ural. »Ich besuchte die vierte, letzte Klasse. Und weil es in der Schule Suppe gab, wiederholte ich die Klasse.« Am schlimmsten sei der Hunger gewesen, es habe an allem gefehlt, erzählt Grigoriy Ginzburh. Schließlich gelang es den Russen, die Deutschen zurückzudrängen. Ginzburhs Vater kam verletzt von der Front zurück, er hatte die Finger seiner linken Hand verloren.

Viktor Pesin, der wie Grigoriy Ginzburh 1930 geboren wurde und sich ebenfalls vor einigen Jahren in Mönchengladbach angesiedelt hat, lebte vor dem Angriff der Deutschen in dem Dorf Jesinger in der Ukraine, das übersetzt »schöner Fluss« bedeutet. »Es war ein jüdisches Dorf«, sagt Pesin. Seine Familie wollte nicht warten, bis die Deutschen sie direkt bedrohten, und beschloss zu fliehen. »Wir stahlen Pferde und fuhren nach Stalingrad, dann über die Wolga und nach Kasachstan.« In dem Dorf Aikakul blieben sie.

»Aber was war das für ein Leben?«, fragt sich Viktor Pesin noch immer. Den ganzen Tag musste er in einem Werk hart schuften. »Ich hatte Hunger, fror und konnte die Sprache nicht.«

Auch am Tag der Befreiung musste er arbeiten. Da wurde eine Versammlung einberufen, auf der der Chef die Nachricht vom Kriegsende verkündete. »Wir freuten uns natürlich.« Erst mit der Zeit habe er gemerkt, dass er mit diesem Tag Freude und Trauer verbindet, sagt Pesin. Sein Vater kam kurz vor Kriegsende ums Leben, erst 2003 fand er dessen Grab in Polen. Ein Onkel wurde verletzt und bei lebendigem Leib begraben, konnte aber noch in letzter Sekunde gerettet werden.

Was Viktor Pesin heute hilft, ist die Jüdische Kultusgemeinde Mönchengladbach. »Wir haben zwar keinen Veteranenklub, aber eben die Gemeinde. Leider lässt mein hohes Alter es nicht zu, oft zu kommen.«

Die Erinnerungen gehen Mykhaylo Barenboym so nahe, dass er kaum darüber sprechen kann.

Mykhaylo Barenboym findet ebenfalls Halt in der Kultusgemeinde. Die Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg gehen ihm so nahe, dass er kaum darüber sprechen kann. Seine Heimat war die Ukraine, aber als Kiew bombardiert wurde, floh auch seine Familie. Sein Vater wollte an die Front, wurde aber abgelehnt. Er hatte früher in der Kavallerie gedient, war aber leicht gehbehindert, nachdem ein Pferd auf ihn gefallen war. Später wurde er doch einberufen und kämpfte ab 1942 in Stalingrad. »Er schrieb uns noch einen Brief«, sagt Barenboym.

1941 war Mykhaylo Barenboym neun Jahre alt. Seine Familie und er flohen erst nach Rostow, und nachdem die Deutschen sich auch dorthin vorgekämpft hatten, an die Wolga. Schon mit zehn Jahren musste er arbeiten. »Das war ganz normal, es war ja Krieg.« »Wir haben die Kämpfe um Stalingrad gehört. Die Stadt wurde zu einem Krater. Offenbar blieb mein Vater in einem liegen.« Als die Ukraine befreit war, machten sie sich auf den Weg in ihre Heimat. »Der Tag der Befreiung bestimmt mein ganzes Leben«, sagt Mykhaylo Barenboym heute.

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