Lörrach

»Stolz, jüdisch zu sein«

Hanna Scheinker über die Entwicklung der 1995 wiedergegründeten Gemeinde

von Anja Bochtler  07.07.2022 14:52 Uhr

Kam 1980 aus Litauen nach Deutschland: Lörrachs Gemeindevorsitzende Hanna Scheinker Foto: Israelitische Kultusgemeinde Lörrach

Hanna Scheinker über die Entwicklung der 1995 wiedergegründeten Gemeinde

von Anja Bochtler  07.07.2022 14:52 Uhr

Frau Scheinker, für alle, die Ihre Gemeinde nicht kennen: Wie würden Sie sie beschreiben?
Bei uns gibt es viel Harmonie. Wir hatten nie Skandale oder größere Konflikte. Wir machen regelmäßig Ausflüge, besuchen unsere kranken Mitglieder, haben eine Sonntagsschule und eine Tanzgruppe für Kinder und wir organisieren Konzerte. Und wir haben den besten Rabbiner, den ich mir vorstellen kann: Moshe Flomenmann, der auch Landesrabbiner von Baden ist. Wir sind eine orthodoxe Gemeinde. Wir sind Teil der Abraham-Gruppe in Lörrach, in der sich die Angehörigen der drei großen Weltreligionen austauschen.

Die Grenze zur Schweiz ist sehr nah – haben Sie auch Mitglieder aus der Schweiz?
Nein, in der Schweiz gibt es eigene Gemeinden. Aber wir sind untereinander befreundet, wir helfen uns aus, wenn es nötig ist. Am Anfang, als wir noch keinen eigenen Rabbiner hatten, kamen Rabbiner aus Basel zu uns, das war sehr wichtig.

Wie ist Ihre Gemeinde entstanden?
Die meisten unserer 470 bis 500 Mitglieder kamen in den 90ern aus Staaten der ehemaligen Sowjetunion nach Lörrach. Es ging ihnen genauso wie allen jüdischen Menschen, die damals in Deutschland einwanderten: Die Sowjetunion fiel auseinander, und vor allem für die Juden dort wurde es immer schwerer. Sie mussten gehen. Ich selbst lebte damals schon einige Zeit in Lörrach, denn ich war 1980 mit meinem Mann aus Litauen, wo ich Russischlehrerin gewesen war, nach Deutschland gezogen. Deshalb kannte ich mich aus und konnte den Neuen helfen, sich in dem für sie fremden Land zurechtzufinden. Ich half ihnen bei der Wohnungssuche und bei den Behörden und vermittelte ihnen viel über das Leben in Lörrach. Mein Wunsch war, dass Juden in Deutschland eine Heimat finden und sich wohlfühlen.

Wie war die Situation in Lörrach 1980, als Sie angekommen sind?
Damals gab es in Lörrach kaum jüdische Menschen, nur drei oder vier außer uns. Mein Mann wollte damals nach Deutschland. Er hat als Einziger seiner Familie den Holocaust und das Konzentrationslager Stutthof knapp überlebt, doch er hatte keinen Hass auf Deutschland. Im Gegenteil, er hing sehr an der deutschen Kultur, mit der er in Riga aufgewachsen war. In unseren ersten Jahren in Lörrach haben wir viel Unterstützung bekommen. So kam es, dass wir am 5. März 1995 die Gemeinde gründen konnten. Damals haben wir nach Deutschland zurückgebracht, was seit Langem zu Deutschland gehört hat – bis Hitler sich ab 1933 durchgesetzt hat.

Wie viele Mitglieder hatte die Gemeinde bei der Gründung?
Wir waren 35. Bald wurden es dann mehr. Die ersten Vorsitzenden der Gemeinde waren Georg Weinberg und Peter Weis, seit dem Jahr 2000 bin ich die Vorsitzende. Wir und unsere christlichen Unterstützer, auch die damalige Oberbürgermeisterin Gudrun Heute-Bluhm, hatten von Anfang an ein Ziel: Wir wollten eine Synagoge haben. Doch bis sie gebaut werden konnte, ist noch einmal viel Zeit vergangen. Am 9. November 2008, dem Jahrestag der Pogromnacht, war die Einweihung.

Wo hat das Gemeindeleben davor stattgefunden?
Wir hatten eine große Wohnung angemietet. Mein Ziel war immer, dass die Menschen ihre Wurzeln finden und daraus Kraft schöpfen können.

Was hat sich in dem Vierteljahrhundert seit der Gründung der Gemeinde alles verändert?
Am Anfang kamen Menschen zu uns, die vor, während oder kurz nach dem Zweiten Weltkrieg geboren worden waren. In der Sowjetunion war religiöses Leben verboten. Als sie in Lörrach ankamen, entwickelten sie plötzlich ein großes Interesse an ihrer Religion, und bald waren sie stolz darauf, jüdisch zu sein. Die Jüngeren kennen ihre Wurzeln bereits.

Vor allem seit einigen Jahren gibt es immer mehr Probleme mit Antisemitismus. Wie ist die Situation in Lörrach?
Es gibt manchmal Schmierereien oder Briefe, doch die Polizei beschützt uns. Weil die Synagoge direkt an der Straße liegt und sich manche unserer Mitglieder unwohl fühlten, haben wir einen Zaun drum herum gebaut, jetzt sind wir sicherer. Immer wenn wir Probleme hatten, haben wir uns an Michael Blume gewandt, den Beauftragten der Landesregierung gegen Antisemitismus. Er unterstützt uns immer im Kampf gegen Antisemitismus.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Mehr jüngere Menschen für die Gemeinde. Viele sind in fortgeschrittenem Alter, auch das mittlere Alter ist gut vertreten, aber wir wünschen uns mehr junge Menschen.

Mit der Vorsitzenden der Israelitischen Kultusgemeinde Lörrach sprach Anja Bochtler.

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