Trauer

Starke Stimme der Erinnerung

Natan Grossmann sel. A. (1927–2024) Foto: Tanja Cummings

Der unermüdliche Zeitzeuge Natan Grossmann ist im Alter von 96 Jahren in München verstorben. Nicht zuletzt der Dokumentarfilm Linie 41 von Tanja Cummings hatte seine Überlebensgeschichte deutschlandweit bekannt gemacht.

1927 im polnischen Zgierz bei Lodz geboren, wuchs er mit seinem vier Jahre älteren Bruder Ber bei den Eltern Bluma und Avram in einem Schtetl-Milieu auf. 1940 wurde die Familie ins Ghetto Lodz/Litzmannstadt gezwungen. Der Vater wurde 1942 ermordet; im selben Jahr verhungerte Natans Mutter, weil sie ihre Ration dem Sohn gegeben hatte, was er zu spät begriff. Ebenfalls 1942 verschwand der ältere Bruder.

Nach der Liquidierung des Ghettos kam Grossmann nach Auschwitz-Birkenau

Nach der Liquidierung des Ghettos kam Grossmann nach Auschwitz-Birkenau, wurde aber bald ins KZ-Außenlager Vechelde bei Braunschweig verschleppt. Nach Lagerauflösung und Todesmarsch, den er dank seiner Konstitution überstand, wurde er am 2. Mai 1945 von amerikanischen GIs im mecklenburgischen Ludwigslust befreit – für Grossmann der Tag seiner zweiten Geburt. Der Bürgermeister von Ludwigslust überreichte ihm daher vor einigen Jahren eine Geburtsurkunde mit ebendiesem Datum, eine Anekdote, die Grossmann gern bei verschiedenen Gelegenheiten wiedergab.

Nach dem Erlebten in Deutschland zu bleiben, kam nicht infrage. Der einzige Weg, um nicht von Rachegefühlen überwältigt zu werden, war der Weg nach Israel. Er führte ihn in den Kibbuz Lochamej haGetaʼot, wo er in der Landwirtschaft arbeitete. Erfrierungen, die er sich in der NS-Zeit zugezogen hatte, zwangen ihn 14 Jahre später, zur medizinischen Behandlung nach Deutschland zurückzukehren. Im Krankenhaus habe sein Hass aufgehört, erklärte Grossmann später.

Er fand in München eine neue Heimat und die Liebe. Hier wurde er zu einer starken Stimme der Erinnerungskultur, zuletzt im »Cafe Zelig«, dem wöchentlichen Treff von Schoa-Überlebenden im Restaurant des Jüdischen Gemeindezentrums.

Über 70 Jahre später erfuhr Grossmann, dass sein Bruder im Widerstand umgekommen war

Im 2015 entstandenen Film Linie 41 dokumentierte Tanja Cummings die Rückkehr Natan Grossmanns nach Lodz und seine Suche nach Spuren zum Verbleib des Bruders. Über 70 Jahre später erfuhr er so, dass Ber im Widerstand gewesen und dabei umgekommen war. Die Dokumentation, benannt nach der Straßenbahn, die einst durch das Ghetto fuhr, führte zu Einladungen unter anderem an Schulen in Deutschland und Polen. Dort erzählte Grossmann nachdenklich, aber stets auch mit Sinn für Humor, dass seine geistige Heimat Israel sei, seine zweite Heimat aber München. Er betrachtete sich als »Zweidrittel-Bayer«, war glühender Fan des FC Bayern und des TSV Maccabi München.

Charlotte Knobloch, die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, die sich an den bewegenden Auftritt Grossmanns zum Jom Haschoa 2019 in der Synagoge »Ohel Jakob« erinnert, wo er mit seiner schönen, kraftvollen Stimme das Lied »Sog nit kejnmol« anstimmte, resümierte in ihrer Trauerrede treffend: »Geschichte verstehen wir nur durch die Erinnerungen derer, die die Kraft besitzen, sie mit uns zu teilen.«

Feiertage

Chatima towa, oder was?

Was von Rosch Haschana über Jom Kippur bis Sukkot die korrekte Grußformel ist

von Rabbiner Yaacov Zinvirt  02.10.2024 Aktualisiert

"Heritage Bites"

Apfel-Honig-Donuts: Süßer Twist für Rosch Haschana

Das perfekte Fingerfood für Neujahr? Honig-Apfel-Donuts

von Hannah Brojtmann  02.10.2024

Rosch Haschana

Geballte Frauenpower zum neuen Jahr!

Wer sind die feministischen Größen im Judentum?

von Chiara Lipp  02.10.2024

Jüdischkeit

Alle Jahre wieder: Bin ich jüdisch genug?

»Da ich fern von jüdischer Religion aufwuchs, gab es viele Dinge, die ich nicht verstand«

von Lien Droste  02.10.2024

Bilanz

Jüdische Sozialarbeit nach 7. Oktober massiv beeinträchtigt

Der Wohlfahrtsverband forderte, soziale Räume des Alltags in Deutschland für Juden sicher zu machen

 02.10.2024

Israel / München

Trauer um Holocaust-Überlebenden Daniel Chanoch

Daniel Chanoch durchlitt als Junge eine Odyssee durch sechs Konzentrationslager - und überlebte. Bis ins hohe Alter engagierte er sich in der Erinnerungsarbeit. Nun starb der Zeitzeuge mit 92 Jahren in Israel

 02.10.2024

Köln

Abraham Lehrer: Juden wünschen sich Solidarität

Der Vizepräsident des Zentralrats der Juden: Kritik an Israel steht im Vordergrund

 02.10.2024

Bundesarchiv

Die rettende Liste: Zum 50. Todestag von Oskar Schindler

Der Fabrikant Oskar Schindler war erst Nationalsozialist. Doch dann rettete er Hunderte Juden in der NS-Zeit vor der Ermordung. An seinen Nachlass in einem Koffer erinnert jetzt das Bundesarchiv

von Verena Schmitt-Roschmann  02.10.2024

Rosch Haschana

Wunsch nach Stabilität

Schmerz und Trauer waren im vergangenen Jahr Realität – wir sollten dennoch die Hoffnung nicht aufgeben

von Charlotte Knobloch  02.10.2024