Rückblick

Sich selbst behaupten

Viele Jahrhunderte lang waren die deutschen Juden für die Fürsorge der Bedürftigen in ihren Gemeinden selbst verantwortlich. Politisch und wirtschaftlich ausgegrenzt, wurde die Wohlfahrtspflege ein Teil des Selbstbehauptungswillens der jüdischen Gemeinschaft.

Der Modernisierung und Entwicklung der jüdischen Wohlfahrtspflege ab Ende des 19. Jahrhunderts von einer dezentral strukturierten Armenfürsorge einzelner Gemeinden hin zu einer deutschlandweit vernetzten jüdischen Wohlfahrtspflege, die nach 1918 in das duale Wohlfahrtssystem der Weimarer Republik fest integriert war, liegen zwei Motivationsschübe zugrunde.

migration Erstens: Die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts einsetzende Migration von »Ostjuden« nach Westeuropa und Amerika stellte vor allem die jüdische Wohlfahrtspflege im Deutschen Reich vor bisher nicht da gewesene Herausforderungen. Die Versorgung der Migranten mit Unterkunft, koscheren Mahlzeiten, Ärzten und Reisepapieren überforderte die einzelnen Gemeinden. Deshalb gründeten sich deutschlandweit vernetzte, national und international zusammenarbeitende Hilfsorganisationen, deren Zusammenwirken im Laufe der Jahre stetig professionalisiert wurde.

Zweitens: Durch die fortschreitende Integration der deutschen Juden in die Mehrheitsgesellschaft folgte auch die jüdische Wohlfahrtspflege den Entwicklungstrends der allgemeinen Wohlfahrtspflege. Nicht zuletzt der Erste Weltkrieg und seine Folgen stellten die gesamten fürsorgerischen Bemühungen vor die gleichen Probleme und hatten große Auswirkungen auf die Entwicklung des Weimarer Wohlfahrtsstaates.

Anders als in den Jahrhunderten davor war die jüdische Wohlfahrtspflege nun ein Teil des Ganzen. Bei der Modernisierung der jüdischen Wohlfahrtspflege in der Weimarer Republik kam deren religiösen Wurzeln eine große Bedeutung zu. Die religiösen Grundlagen gaben der jüdischen Wohlfahrtspflege ihre solidaritätsstiftende und gemeinschaftsfördernde Funktion.

Schabbat Trotz der Integration der deutschen Juden hatte die jüdische Wohlfahrtspflege auch in der Weimarer Republik eine Sonderrolle inne. Das Judentum stellte eine religiöse Minderheit dar, deren spezielle Bedürfnisse nur von jüdischer Seite gelöst werden konnten. Folglich kümmerte sich die jüdische Wohlfahrtspflege mit Ausnahme der Krankenhäuser um jüdische Klientel.

So stellte etwa für religiöse Juden die Berufsausübung am Samstag ein großes Problem dar. Es war folglich Aufgabe der jüdischen Arbeitsvermittlungsstellen, »schabbatfreie« Stellen zu vermitteln. Über mehrere Jahre hinweg versuchte die Vereinigte Zentrale für jüdische Arbeitsnachweise vergeblich zu verhindern, dass jüdischen Erwerbslosen das Erwerbslosengeld gestrichen wurde, weil sie Arbeit auf Stellen verweigerten, die mit Arbeit am Schabbat verknüpft waren. Die jüdische Wohlfahrtspflege musste die soziale Fürsorge für all die jüdischen Erwerbslosen übernehmen, die der staatlichen Fürsorge verlustig gingen.

Die nach Westeuropa auswandernden osteuropäischen Juden stellten daneben insofern eine große Herausforderung dar, da sie deutlich zur Unterscheidung der jüdischen Wohlfahrtspflege von den anderen freien Trägern beitrugen. Zum einen war die deutsche jüdische Wohlfahrtspflege in diesem Bereich international tätig, zum anderen konnte sie dabei kaum auf öffentliche Hilfen zurückgreifen.

Zionisten Neben den religiösen gab es in der Weimarer Republik auch zionistische Beweggründe für soziales Engagement. Die Zionisten waren vor allem in der »Ostjudenhilfe« und der Jugendbewegung beziehungsweise -fürsorge vertreten. Sie legten großen Wert auf konstruktive und produktive Wohlfahrtspflege, »insbesondere auf dem Gebiet der Berufsförderung und der Erziehung zur praktischen Arbeit«. Besonders in den späten Jahren der Weimarer Republik wollten sie auf diese Weise die besten Voraussetzungen für eine Auswanderung nach Palästina schaffen.

Durch die Weimarer Reichsverfassung erhielt das Recht auf Fürsorge Verfassungsrang. In Anbetracht der allgemeinen Entwicklung der Fürsorge und des Wiedererstarkens des jüdischen Selbstbewusstseins war es eine logische Konsequenz, dass auch der ursprüngliche Gerechtigkeitsgedanke im Zedaka-Begriff wieder auftauchen konnte, nachdem er im 19. Jahrhundert eher »Mildtätigkeit« bedeutet hatte.

In der Weimarer Republik blieb der Begriff jedoch nicht auf das ursprüngliche Verständnis von Gerechtigkeit beschränkt. Zedaka wurde weiter gefasst und schließlich zum Leitbegriff für die jüdische Wohlfahrtspflege. Nicht umsonst trug auch die erste Zeitschrift, die von der Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden herausgegeben wurde, diesen Namen.

quellen Hannah Karminski, die als Geschäftsführerin des Jüdischen Frauenbundes tätig war, äußerte sich zum Einfluss der alten Quellen auf die moderne Wohlfahrtspflege: »Hier geht es um das Aufspüren von Quellen, die in die Wirklichkeit hinein den lebendigen Strom ihrer Kraft ergießen sollen.

Um dieses Suchen geht es, wenn man von der praktischen Sozialarbeit des Alltags hinweg zurückblickt zu der Sozialgesetzgebung, die in der Bibel und den nachbiblischen Schriften ihren Niederschlag gefunden hat und bereits vor 3000 Jahren Denken und Handeln der jüdischen Gemeinschaft bestimmte. Hier spürt man eine Kraftquelle, von der Jahrtausende hindurch eine befruchtende Wirkung ausging, auf Völker und Einzelne.«

Auch wenn in der Weimarer Republik Religion Privatsache war und nicht mehr unbedingt den Lebensalltag bestimmte, blieb die jüdische Tradition lebendig. So blieben viele Wohltätigkeitsvereine in ihren Einrichtungen koscher, und die Mitarbeiter befolgten die religiösen Gebote, in Altenheimen, Krankenhäusern oder Fürsorgeerziehungsheimen wurden jüdische Feiertage eingehalten.

chewra kadischa Wie wichtig zu allen Zeiten den deutschen Juden die Bestattung nach jüdischem Ritus war, zeigt die hohe Anzahl der Vereine, die sich das zur Aufgabe gemacht hatten. Auch in der Weimarer Republik gab es keine jüdische Gemeinde, die nicht eine Chewra Kadischa, eine Beerdigungsbrüderschaft, hatte. Von der Chewra Kadischa wurden die Mitglieder des Vereins betreut, aber auch alle Bedürftigen, die die Beerdigungskosten nicht selbst aufbringen konnten.

Mit 25 Prozent stellten die Einrichtungen der Jugendwohlfahrt den größten Anteil an den geschlossenen und halb offenen Einrichtungen der jüdischen Wohlfahrtspflege in der Weimarer Republik. Henni Coblenz untersuchte in ihrer Dissertation von 1927, Die Erziehung der Schulpflichtigen und Jugendlichen in jüdischen Heimen, Waisenhäuser, Internate, Lehrlings- und Mädchenheime, landwirtschaftliche Lehrgüter und Erziehungsanstalten in Hinblick auf »das spezifisch jüdische Moment innerhalb der jüdischen Anstaltserziehung«. Sie kommt zum Ergebnis, dass das spezifisch Jüdische in jedem Heim zu finden ist: »Die Anstalten geben ausnahmslos eine rituelle Erziehung, sie begehen die jüdischen Festtage als besondere Feiertage, sie halten den Sabbath und den Freitagabend.«

Ritualgesetze So lautet Paragraf 2 des 1903 in Berlin gegründeten Fördervereins für hilflose jüdische Kinder, dem Trägerverein des Berliner Säuglings- und Kleinkinderheims: »Die Erziehung der Kinder hat im jüdisch religiösen Sinne zu erfolgen.« Ein weiteres Beispiel bilden die »Grundbestimmungen und Statuten für das Altenhaus« der jüdischen Gemeinde in Hamburg, wo es in Paragraf 10 heißt: »Die Wirtschaftsverwaltung wird aufgrund der jüdischen Ritualgesetze geführt und auch die Sabbath- und Feiertagsgesetze sind in der Anstalt zu beachten, sämtliche Pfleglinge haben sich darnach zu richten.«

Viele Heime hatten ihre eigene Anstaltssynagoge, das Berliner Säuglings- und Kleinkinderheim hatte sogar einen Operationssaal, der hauptsächlich für Beschneidungen genutzt wurde. Viele Einrichtungen hatten bewusst in ihrem Namen »Israelitisch« oder »Jüdisch« aufgenommen, um zu zeigen, dass das Haus entsprechend dem jüdischen Ritus geführt wurde. In einigen Heimen war bereits der Alltag religiös geprägt. So begann in der Fürsorgeerziehungsanstalt Repzin der Tag um halb sechs mit einem Morgengebet und schloss um halb neun mit einem Abendgebet.

Als ein Ergebnis lässt sich festhalten, dass für die deutschen Juden in der Weimarer Republik eine eigene jüdische Wohlfahrtspflege unabdingbar war. Auch oder gerade in der nachemanzipatorischen Zeit war die Rolle der jüdischen Wohlfahrtspflege als Instrument zur Sicherung des Fortbestands des Judentums von großer Bedeutung.

Hamburg

»Our Turn«: Zentralrat und ZWST veranstalten Jugendkongress 2025

Den Teilnehmern sollen »Methoden, Chancen und Vorbilder« gezeigt werden, mit denen sie sich selbst verwirklichen können sollen

von Imanuel Marcus  11.12.2024

Magdeburg

Sachsen-Anhalt setzt Förderung jüdischer Einrichtungen fort

Die Projektauswahl wird vom Beirat für jüdisches Leben begleitet

 11.12.2024

Interview

»Damit ihr Schicksal nicht vergessen wird«

Die Schauspielerin Uschi Glas setzt sich für die Befreiung der israelischen Geiseln ein. Ein Gespräch über Menschlichkeit, Solidarität und Gegenwind

von Louis Lewitan  11.12.2024

Stuttgart

Opfer eines Schauprozesses

Nach fast drei Jahrzehnten Stillstand wurde nun ein Platz eingeweiht, der Joseph Süß Oppenheimer gewidmet ist

von Brigitte Jähnigen  10.12.2024

Esslingen

Antike Graffiti

Der Künstler Tuvia ben Avraham beschreibt das Judentum anhand uralter Buchstaben – und jeder darf mitmachen

von Valentin Schmid  09.12.2024

Berlin

Campus mit Kita und Café

Noch bis zum 10. Dezember können Architekten ihre Entwürfe für den Neubau an der Synagoge Fraenkelufer einreichen

von Christine Schmitt  09.12.2024

München

Mit Erfahrung zum Erfolg

Die Spieler des Schachklubs der IKG gehören zu den stärksten in Bayern – allen voran Leonid Volshanik

von Vivian Rosen  09.12.2024

Bundestag

Zentralrat der Juden schlägt Maßnahmen für Schutz jüdischen Lebens vor

Was der jüdische Dachverband von den Parteien mit Blick auf die Neuwahlen erwartet

 09.12.2024

Frankfurt

»Voll akzeptiert in der Gemeinde«

Rabbinerin Elisa Klapheck über das Jubiläum des Egalitären Minjans und das Konzept »Alle unter einem Dach«

von Ralf Balke  07.12.2024