Semer-Label

Schlager, Chanson, Kabarett

Kann sich mit den wiederentdeckten Liedern aus den 30er-Jahren identifizieren: Alan Bern, Gründer des Semer-Ensembles Foto: Gregor Zielke

Da ist zum Beispiel dieses eine Lied, »Jad Anuga«. Alan Bern, Leiter des Semer-Ensembles, mag es besonders gern. Dabei habe er eigentlich nie Lieblingslieder, sagt der Musiker, aber dieses Stück gefalle ihm dann doch »besonders gut«. Es ist eines von zwölf Stücken auf der CD Rescued Treasure und handelt von einer Liebesgeschichte, von einer »zarten Hand«, dazu kommt ein dezent arabischer Charakter der Melodie.

Aber auch die Lieder »Kaddisch. Der jüdische Soldat« und »Die Welt ist klein geworden« haben es ihm sehr angetan. »›Das Kind liegt in Wigele‹ ist beispielsweise das einzige jiddische traditionelle Volkslied auf unserer CD und gleichzeitig die Musik, die wir am meisten verfremdet haben, nämlich mit Mitteln, die sonst nur in zeitgenössischer Musik und im Free Jazz vorkommen. Mir gefällt die Spannung zwischen Tradition und Innovation.«

Jeder der Songs erzählt eine eigene Geschichte, und doch gibt es einen Aspekt, der sie alle vereint: Sie waren auf den Schellackplatten des jüdischen Schallplattenlabels Semer (hebräisch: Gesang) vor der Schoa gepresst, gerieten mehrere Jahrzehnte in Vergessenheit und sind nun, neu interpretiert vom jungen Ensemble Semer, auf der CD Rescued Treasure wieder zu hören. »Wir legen keine museale Einspielung vor, sondern haben der Musik eigene Ideen hinzugefügt und interpretieren sie zeitgenössisch, versehen mit Jazz-Elementen«, betont Alan Bern. Und das zeigte das Ensemble auch bei seinem Auftritt im Jüdischen Museum zur Eröffnung des Kultursommers am vergangenen Samstag.

Zwei Monate lang hatte der Komponist und Pianist in der Vorbereitungszeit die Aufnahmen der jüdischen Schallplatten gehört. »Ich wollte jede Nuance der Musik und der Sprache verstehen«, sagt der 61-Jährige, der mittlerweile seit mehr als 30 Jahren in Berlin lebt. Notenbücher gebe es keine, weshalb gute Ohren und ein sensibles Gespür für die Transkription gefragt seien. Im mit Klavier, Geige, Bass, Akkordeon, Trompete und Gesang orchestrierten Klangbild der 30er-Jahre erklingen sie nun wiederbelebt auf der CD. In der Entstehungszeit gab es in Berlin eine große Pluralität an Stilen und Interpretationsweisen – genau das möchte das Semer-Ensemble zeigen.

Flohmärkte Den Anstoß dafür, dass diese Musik nun wieder erklingt, gab vor ein paar Jahren eine Ausstellung über den Jüdischen Kulturbund in der Akademie der Künste. Dort entdeckte der Jazz-Historiker und Diskograf Rainer E. Lotz ein Thema, das ihn fortan intensiv beschäftigte: Schellackplatten Jüdischer Verlage. Er machte sich auf die Suche und wurde mithilfe von Freunden und Bekannten auf der ganzen Welt fündig: auf Flohmärkten, in Bibliotheken, in jüdischen Gemeinden und Läden.

»Wenn eine Familie vor den Nazis floh, dann nahm sie selten ihre Schallplattensammlung mit. 60 Jahre lang waren die Aufnahmen praktisch verschollen«, sagt Lotz. Daher sei es sehr schwer gewesen, sie wieder ausfindig zu machen. Dennoch war der Historiker erfolgreich: Er fand insgesamt vier Verlage, davon zwei in Berlin, die beide jeweils einem Inhaber namens Lewin gehörten. »Sie waren aber nicht verwandt – Hirsch Lewin hatte sein Geschäft in Mitte, Moritz Lewin hingegen in Westend.«

Auf dem Label Bear Family Records veröffentlichte Lotz daraufhin die Sammlung Beyond recalls. Jewish Musical Life in Nazi Berlin. Sie vereint auf elf CDs mehr als 14 Stunden historische Aufnahmen aus den 30er-Jahren. Die 250 Lieder jüdischer Künstler handeln von Liebe, Eifersucht, Sozialismus, Zionismus, tanzenden jungen Frauen, Affären und Pianolas. Die Interpreten, darunter Joseph Schmidt, Dora Gerson und Maurice Schwartz, sangen auf Jiddisch, Deutsch, Hebräisch, Polnisch und Russisch. Alle Genres waren vertreten: von Klassik, populären Schlagern und Volksliedern bis hin zu Kabarett und kantoralem Gesang.

zuflucht Hirsch Lewins Plattenverlag galt damals als der letzte Zufluchtspunkt für jüdische Musiker, denen in Deutschland ansonsten Musikaufnahmen verboten waren, so Alan Bern.

Der Plattenverleger war während des Ersten Weltkriegs als Zwangsarbeiter nach Deutschland gekommen und geblieben. Er arbeitete zunächst in der Buchhandlung Gonzer, bis er 1930 eine eigene »Hebräische Buchhandlung« in der Grenadierstraße 28, heute Almstadtstraße, eröffnete. Zu seinem Sortiment gehörten religiöse jüdische Schriften, Kinderbücher, Gebetsmäntel und Kerzen, aber auch Schellackplatten.

Zwischen 1932 und 1938 nahm er mit seinem Label Semer Hunderte Platten auf, viele davon in Eigenregie. Seinerzeit berühmte Musiker standen bei ihm unter Vertrag – bis zur Pogromnacht 1938. Die Nazis zerstörten den Laden, die Familie floh zu Freunden. Das Werk von Hirsch Lewin war vernichtet. Hirsch und seine Familie überlebten die Schoa und wanderten nach Palästina aus, wo er wieder ein Plattenlabel gründete.

Nachdem Rainer Lotz die mühsam wiedergefundenen Platten archiviert und digitalisiert sowie ein biografisches Lexikon zu den Künstlern erstellt hatte, beauftragte das Jüdische Museum Berlin Alan Bern, den künstlerischen Leiter des Yiddish Summer Weimar und Direktor der Other Music Academy (OMA), ein Ensemble zu gründen, das die Musik wieder zum Leben erwecken sollte. Er und zwei weitere Mitglieder des Ensembles hörten sich daraufhin durch das Repertoire und erstellten eine Liste mit den besten Liedern. Schließlich einigten sie sich auf 25, von denen zwölf in die CD des Ensembles eingeflossen sind.

wurzeln »Ich wollte nicht nur zitieren, sondern komplett eintauchen – es ging um reine Identifikation, keine Ironie«, sagt Bern, »auch weil hier in Berlin so viele Musiker mit jüdischen Wurzeln aus Russland, den USA oder Israel leben, die sich damit identifizieren können.« Die Pluralität der Kultur und die zahlreichen künstlerischen Impulse vergleicht er mit denen des Vorkriegs-Berlin. So bringen alle Ensemblemitglieder ihre Erfahrungen aus Jazz, jüdischer Musik und Klassik mit ein.

Bis auf Klezmer-Sänger Lorin Sklamberg leben alle in Berlin, darunter Trompeter Paul Brody, Daniel Kahn, die in Lettland geborene Sasha Lurje, der Sänger Fabian Schnedler, der Geiger Mark Kovnatskiy, der aus Moskau stammt, und der Bassist Martin Lillich. Zehn Sprachen sind vertreten. Alan Bern selbst, der sich als säkular bezeichnet und sich stark mit der jüdischen Kultur identifiziert, kam in den 80er-Jahren aus den USA nach Berlin – ihm gefiel die Atmosphäre, also entschied er sich zu bleiben. Seine Eltern, deren Familien aus Moldawien und dem ukrainischen Lemberg stammen und die in der amerikanischen Armee gegen die Nazis gekämpft haben, konnten sich lange Zeit nicht damit anfreunden, sagt Bern.

Mittlerweile hat Jazz-Historiker Lotz insgesamt mehr als 60.000 Schallplatten zusammengetragen. Er hat damit begonnen, Sammlungen zu verschenken, unter anderem an eine New Yorker Bibliothek. »Wir haben den Nazis gleich in mehrfacher Hinsicht ein Schnippchen geschlagen«, sagt er. Zum einen würde den von den Nazis verfolgten Interpreten durch die historischen Aufnahmen »wieder eine Stimme gegeben«, zum anderen erlebe »eine ausgelöschte Musikkultur« eine Renaissance – nicht zuletzt dank der zeitgenössischen Interpretationen jüdischer Musiker in Berlin.

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